Die prähistorische Evolution... ca. 7300 v. Chr. bis 5000 v. Chr.
ʿAin Ghazal
Die frühneolithische Siedlung ʿAin Ghazal (arabisch عين غزال, was übersetzt „Quelle der Gazelle“ bedeutet) liegt am Ursprung des Flusses Nahr ez-Zarqa, in der Nähe der heutigen Hauptstadt Amman in Jordanien. Diese bedeutende Siedlung war von etwa 7300 v. Chr. bis 5000 v. Chr. bewohnt und gehört zu den frühesten Zentren landwirtschaftlicher Gesellschaften. Mit ihrer beeindruckenden Größe von ungefähr 15 Hektar zählt ʿAin Ghazal zu den größten prähistorischen Siedlungen im gesamten Vorderen Orient. Archäologen haben hier eine Vielzahl an Funden gemacht, die tiefere Einblicke in das Leben der damaligen Bewohner geben. Unter anderem wurden Hausgrundrisse freigelegt, die eine Vorstellung von den Bauweisen jener Zeit vermitteln.
Aber auch Gräber, Werkzeuge, botanische Überreste und Tierknochen wurden entdeckt, was es den Forschern ermöglicht, ein detailliertes Bild des Alltags der Menschen in ʿAin Ghazal zu zeichnen. Besonders bemerkenswert ist die lange Besiedlungsdauer von über 2000 Jahren, die auf die reichen Wasserressourcen der Region zurückzuführen ist. Diese anhaltende Besiedlung erlaubt es Archäologen, die Veränderungen in der Lebensweise der Menschen über einen Zeitraum von mehr als 100 Generationen nachzuvollziehen. Der Ort ist somit ein einzigartiges Zeugnis der frühen Menschheitsgeschichte und bietet wertvolle Erkenntnisse über die Entwicklung von Landwirtschaft, Gesellschaft und Kultur in einer der frühesten menschlichen Gemeinschaften der Welt.
Die Entdeckung und Erforschung von
ʿAin Ghazal
Rettungsgrabungen und internationale Zusammenarbeit
Die Überreste der bedeutenden neolithischen Siedlung ʿAin Ghazal blieben seit ihrer Aufgabe vor etwa 7000 Jahren nahezu unberührt. Erst 1974 wurde die Stätte durch den Bau der Autobahn zwischen Amman und Zarqa zufällig angeschnitten. Zunächst blieb der Fund unbemerkt, doch im Jahr 1981 erregten freigelegte Architekturreste und Gräber die Aufmerksamkeit der Archäologen. Die jordanische Antikenbehörde begann 1982 mit einer Rettungsgrabung, da die Autobahn bereits über 600 Meter hinweg durch den Fundort verlief. Diese Grabung wurde von einer breiten Gruppe an Beteiligten unterstützt, darunter Studenten der jordanischen Universitäten und engagierte Freiwillige aus Wirtschaft und Diplomatie. Mit der Entdeckung der außergewöhnlichen Größe der Siedlung wurde klar, dass ʿAin Ghazal von herausragender archäologischer Bedeutung ist. Es folgten Pläne für ein groß angelegtes Grabungsprogramm, welches 1983 unter der Leitung der Yarmuk-Universität in Irbid begann. Die ersten fünf Jahre der Ausgrabungen wurden großzügig von dem Desert Research Institute in Reno, Nevada, und der National Geographic Society finanziell unterstützt.
In der Grabungssaison von 1983 erweiterte man das Grabungsareal und stieß auf bedeutende Funde, darunter architektonische Überreste sowie vier männliche Schädel, die Überreste von kunstvoll modellierten Gesichtern aufwiesen. Besonders aufsehenerregend war der Fund des ersten von zwei Horten mit anthropomorphen Statuen aus Kalklehm, die ʿAin Ghazal weltweite Berühmtheit einbrachten. Diese Figuren, insgesamt 26 an der Zahl, wurden mit ihrem Erdreichblock geborgen und im Institute of Archaeology in London konserviert. Fünf dieser außergewöhnlichen Figuren konnten restauriert werden. Im Folgejahr wurden weitere Grabungen durchgeführt, um die Siedlungsgeschichte von ʿAin Ghazal tiefer zu erforschen. Es stellte sich heraus, dass die Siedlung über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrtausenden bewohnt war und viele zeitgenössische Dörfer der südlichen Levante überdauerte. Trotz Schäden durch die Autobahnarbeiten wurde auch der zweite Hort von Kalklehmfiguren 1985 geborgen und zur Konservierung an das Smithsonian Institution in Washington, D.C. geschickt, wo drei zweiköpfige Statuen erfolgreich restauriert wurden. Während der Blütezeit im mittleren und späten Präkeramischen Neolithikum B (7250–6000 v. Chr.) erreichte ʿAin Ghazal eine Ausdehnung von rund 14 Hektar. Die typische Wohnstruktur bestand aus ein- oder zweiräumigen Häusern, die aus Lehmziegeln auf steinernen Fundamenten errichtet waren. Die Böden der Häuser waren mit einer dicken Schicht aus weißem Putz bedeckt, und auch die Wände wurden regelmäßig mit Putz erneuert. Dieser wurde durch das Brennen von Kalk bei etwa 850 °C hergestellt. Zusätzlich fanden sich siloähnliche Gebäude, die wohl zur Lagerung von Nahrungsmitteln genutzt wurden. Eine bedeutende Entwicklung im präkeramischen Neolithikum C (6000–5500 v. Chr.), das erstmals in ʿAin Ghazal identifiziert wurde, war die Verkleinerung der Siedlungen. Die Bauweise wurde einfacher, und die Fußböden waren nicht mehr verputzt. Diese Phase markiert den Beginn eines allmählichen Bevölkerungsschwunds, der ab etwa 5500 v. Chr. dazu führte, dass die zuvor weit verbreiteten zweistöckigen Mehrfamilienhäuser durch kleinere, freistehende Einfamilienhäuser ersetzt wurden.
In den Jahren 1988/89 rückte die spätere Siedlungsgeschichte in den Fokus der archäologischen Forschung. Weitere Ausgrabungen von 1992 bis 1998 konzentrierten sich vor allem auf die Randbereiche der Siedlung und offenbarten die beeindruckende Ausdehnung des Ortes. Ein bedeutsamer Fund war die Entdeckung von Steinsetzungen, die auf lange Schutzmauern hindeuteten – eine Struktur, die in der westlichen Hauptsiedlung bisher nicht nachgewiesen worden war. Zudem konnte 1993 der Nachweis zweistöckiger Gebäude erbracht werden, und es wurden kleinere Bauwerke gefunden, die vermutlich als Schreine dienten. 1995 wurde ein Heiligtum freigelegt, das durch eine 20 Meter lange Schutzmauer begrenzt war und im Inneren sowohl einen Altar als auch eine Feuerstelle besaß. Ein ähnliches Gebäude entdeckte man im darauf folgenden Jahr auch im östlichen Teil der Siedlung.
Die Siedlungsgeschichte von ʿAin Ghazal
Besiedlungsperioden und kultureller Wandel
Die Siedlungsgeschichte von ʿAin Ghazal lässt sich in mehrere Besiedlungsphasen einteilen, die tiefgehende Veränderungen in der Lebensweise und Architektur widerspiegeln.
- Mittleres präkeramisches Neolithikum B (mPPNB), 7250–6500 v. Chr.:
In dieser Phase erlebte die Siedlung ein erhebliches Wachstum. Sie breitete sich auf etwa 14 Hektar aus, was auf eine stetig wachsende Bevölkerung und zunehmende landwirtschaftliche Aktivität hindeutet. Die Gebäude waren meist aus Lehmziegeln auf Steinfundamenten errichtet und bestanden häufig aus ein oder zwei quadratischen Räumen. Besonders auffällig sind die mit dickem weißem Putz bedeckten Böden und Wände, die regelmäßig erneuert wurden. Runde, siloähnliche Gebäude zeugen zudem von fortschrittlichen Lagermöglichkeiten für Nahrungsmittel. - Spätes präkeramisches Neolithikum B (sPPNB), 6500–6000 v. Chr.:
In dieser Zeit blieb die Siedlung weiterhin bedeutend, jedoch wurden bereits erste Veränderungen in der Architektur und möglicherweise in der sozialen Struktur sichtbar. Die umfassende Nutzung von Lehmputz und die aufwändige Bauweise zeigen eine anhaltend hohe kulturelle und technologische Entwicklung. - Präkeramisches Neolithikum C (PPNC), 6000–5500 v. Chr.:
Diese Periode, die erstmals in ʿAin Ghazal dokumentiert wurde, markiert einen deutlichen Wandel. Die Siedlung wurde kleiner, und auch die Bauweise veränderte sich. Die Gebäude waren nun einfacher konstruiert, und die zuvor verbreiteten verputzten Böden wurden nicht mehr verwendet. Dies könnte auf einen Rückgang der Bevölkerung und eine weniger komplexe gesellschaftliche Struktur hindeuten. - Keramisches Neolithikum (PN), 5500–5000 v. Chr.:
In der letzten Besiedlungsphase erlebte ʿAin Ghazal einen weiteren Wandel. Die großen, mehrstöckigen Gebäude, die zuvor typisch waren, wichen kleineren Einfamilienhäusern. Dies deutet auf einen starken Bevölkerungsrückgang hin, der möglicherweise durch ökologische oder soziale Veränderungen bedingt war.
Kunst von ʿAin Ghazal
Frühe Skulpturen und rituelle Meisterwerke des Neolithikums
Die Kunstwerke von ʿAin Ghazal gehören zu den beeindruckendsten Funden aus dem Frühneolithikum und zeugen von einem hohen künstlerischen und kulturellen Niveau der damaligen Bewohner. Besonders herausragend sind die über 30 Gipsstatuen, die im frühen 7. Jahrtausend v. Chr. geschaffen wurden. Diese Skulpturen, welche menschliche Figuren in abstrakter Form darstellen, bieten einen faszinierenden Einblick in die religiösen oder symbolischen Vorstellungen der Gemeinschaft. Einige dieser Statuen wurden in sogenannten Horten gefunden, wobei der berühmteste Fund aus Hort 2 stammt. Eine der dort entdeckten Gips-Statuen ist ein Paradebeispiel für die Kunstfertigkeit der damaligen Zeit. Diese Skulpturen wurden aus Kalklehm modelliert und teilweise mit organischen Materialien wie Haaren oder Augen aus Muscheln ergänzt. Der Detailreichtum und die Größe dieser Kunstwerke machen sie zu einzigartigen Zeugnissen der frühen Menschheitsgeschichte. Heute sind einige dieser Statuen im Jordanischen Museum in Amman ausgestellt, wo sie als zentrale Exponate der prähistorischen Kunst des Vorderen Orients gelten. Sie ziehen Besucher aus der ganzen Welt an und vermitteln einen lebendigen Eindruck von der künstlerischen Blütezeit in ʿAin Ghazal, einer der bedeutendsten Siedlungen der Region.
Die Gesichtsmasken von
ʿAin Ghazal
Ahnenkult und rituelle Schädelübermodellierung
Die ältesten Kunstwerke von ʿAin Ghazal sind drei faszinierende Gesichtsmasken, die aus dem 8. Jahrtausend v. Chr. stammen und damit zu den frühesten lebensgroßen, rundplastischen Skulpturen der Menschheitsgeschichte gehören. Diese Masken, die vermutlich als Vorläufer der späteren Ganzkörperstatuen dienten, bieten einen tiefen Einblick in die rituellen Praktiken und den Umgang der Menschen dieser Zeit mit dem Tod. Es wird angenommen, dass die meisten Verstorbenen außerhalb der Siedlung beigesetzt wurden, während nur wenige unter den Fußböden der Häuser bestattet wurden. Die Gräber dieser wenigen Auserwählten wurden jedoch oft später wieder geöffnet, um die Schädel zu entnehmen. Diese Schädel wurden dann sorgfältig bearbeitet, möglicherweise um die Oberfläche für die Anbringung von Gips vorzubereiten. Die Augen der Masken wurden stets geschlossen dargestellt, jedoch mit Einlagen aus Bitumen hervorgehoben, was ihnen eine besondere Ausdruckskraft verleiht. Diese Masken spiegeln möglicherweise die spirituellen oder kulturellen Vorstellungen der damaligen Gesellschaft wider und unterstreichen die tiefe Bedeutung, die den Ahnen und dem Jenseits in ʿAin Ghazal beigemessen wurde.
Die Statuen von ʿAin Ghazal
Monumentale Kunstwerke und Zeugnisse neolithischer Spiritualität
Die Statuen von ʿAin Ghazal sind einzigartige Zeugnisse früher menschlicher Kunstfertigkeit und wurden um 6700 v. Chr. (Hort 1) sowie 6500 v. Chr. (Hort 2) in unbewohnten Häusern deponiert. Während die Figuren aus Hort 1 ungeordnet abgelegt wurden, fand man die späteren Statuen aus Hort 2 sorgfältig geordnet. Diese beeindruckenden Skulpturen reichen in ihrer Größe von kleinformatigen Figuren bis hin zu fast lebensgroßen Plastiken. Die älteren Figuren zeichnen sich durch besonders detailreiche Körperformen und farbige Bemalung aus. Ihre Augen wurden mit großem handwerklichem Geschick gestaltet: Augäpfel aus weißem Kalk sowie Augenlider und Iris, die mit Bitumen eingefasst wurden, verliehen den Statuen eine lebendige Ausdruckskraft. Diese kunstvollen Verzierungen machten die älteren Statuen besonders wertvoll und zeugen von einer hochentwickelten Technik in der figürlichen Darstellung. Im Gegensatz dazu erscheinen die späteren Statuen etwas schlichter und weniger detailverliebt. Ihre Körper wirken plumper und sie sind unverziert. Auffällig sind jedoch ihre mandelförmigen Pupillen, die einen stilistischen Wandel in der Darstellung der Augen zeigen. Ein weiterer bemerkenswerter Fund aus dieser Zeit sind drei doppelköpfige Büsten, die mit flachen, brettartigen Körpern und fein ausgearbeiteten Gesichtern gestaltet wurden. Die doppelte Kopfstruktur lässt darauf schließen, dass diese Büsten eine besondere rituelle oder symbolische Bedeutung hatten, möglicherweise im Zusammenhang mit einem Ahnenkult. Es wird vermutet, dass die Statuen ursprünglich aufgestellt und in rituellen Kontexten verwendet wurden, bevor sie mit den Gesichtern nach unten in Gruben bestattet wurden. Dies deutet auf eine klare religiöse oder zeremonielle Funktion hin, die tief mit den Vorstellungen von Ahnenverehrung und Spiritualität in ʿAin Ghazal verwoben war. Die Statuen wurden aus einem Gemisch aus gebranntem Kalk und Lehm gefertigt, wobei die Beherrschung der Kalkbrenntechnik ʿAin Ghazal in das akeramische Neolithikum B einordnen lässt. Interessant ist auch, dass Keramik erst ab etwa 5500 v. Chr. in der Region in Gebrauch kam. Um die Stabilität der Statuen zu gewährleisten, modellierten die Menschen das Kalk-Lehm-Gemisch um ein Skelett aus Schilfbündeln, das durch die Füße ragte. Dies deutet darauf hin, dass die Statuen ursprünglich auf Standflächen befestigt waren und somit eine wichtige Rolle in den Räumen spielten, in denen sie aufgestellt wurden.
Präkeramisches Neolithikum B
STECKBRIEF
01
Name
ʿAin Ghazal (arabisch: عين غزال, „Quelle der Gazelle“)
02
Zeitraum der Besiedlung
ca. 7300 v. Chr. – 5000 v. Chr.
03
Lage
Amman, Jordanien, nahe des Flusses
Nahr ez-Zarqa
04
Größe der Siedlung
Bis zu 15 Hektar
05
Kulturelle Bedeutung
Eine der frühesten landwirtschaftlichen Siedlungen im Vorderen Orient
06
Wichtige Besiedlungsphasen
- Mittleres präkeramisches Neolithikum B (mPPNB), 7250–6500 v. Chr.
- Spätes präkeramisches Neolithikum B (sPPNB), 6500–6000 v. Chr.
- Präkeramisches Neolithikum C (PPNC), 6000–5500 v. Chr.
- Keramisches Neolithikum (PN), 5500–5000 v. Chr.
07
Entdeckung
1974 bei Autobahnbau entdeckt, Rettungsgrabung 1982
08
Wichtige Funde
- Über 30 Gips-Statuen, geschaffen ca. 6700–6500 v. Chr.
- Anthropomorphe Figuren, oft lebensgroß und farbig bemalt
- Doppelte Schädelbüsten mit brettartigen Körpern
- Gesichtsmasken aus dem 8. Jahrtausend v. Chr., die als Ahnenkult-Objekte verwendet wurden
09
Materialien
Gips, gebrannter Kalk, Schilfskelette, Bitumen
10
Museen
Einige Statuen sind im Jordanischen Museum in Amman ausgestellt
11
Religiöse Bedeutung
Vermutlich Ahnenkult und rituelle Bestattungen
12
Besonderheiten
Erste bekannte lebensgroße Skulpturen des Neolithikums; Übergang zur Nutzung von gebranntem Kalk