Die prähistorische Evolution... ca. 7400 - 6200 v. Chr.
Bouqras
Inmitten der faszinierenden Landschaft Syriens, nur einen Steinwurf von 35 Kilometern von der geschichtsträchtigen Stadt Deir ez-Zor entfernt, erhebt sich majestätisch die prähistorische Stätte Bouqras. Dieses beeindruckende Zeugnis menschlicher Siedlungsgeschichte erstreckt sich über eine beachtliche Fläche von rund 5 Hektar und zeichnet sich durch seine charakteristische ovale Form aus, die Archäologen und Geschichtsinteressierte gleichermaßen in ihren Bann zieht. Tief verwurzelt in der faszinierenden Epoche des Neolithikums, markiert Bouqras einen bedeutenden Meilenstein in der Entwicklung früher menschlicher Gemeinschaften. Die ovale Kontur der Ausgrabungsstätte, die sich sanft in die umliegende Landschaft einfügt, lässt erahnen, welch bemerkenswerte Errungenschaften unsere Vorfahren bereits vor Jahrtausenden vollbracht haben.
Die Entdeckung von Bouqras
Von ersten Spuren bis zur umfassenden Erforschung einer neolithischen Siedlung
In den frühen Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts machte der niederländische Geomorphologe Willem van Liere eine faszinierende Entdeckung: Er stieß auf den archäologisch bedeutsamen Tell. Diese Fundstätte sollte bald darauf zum Schauplatz intensiver Forschungsarbeiten werden. Unmittelbar nach van Lieres Entdeckung begannen die ersten Ausgrabungen. Von 1960 bis 1965 leiteten der renommierte Archäologe Henri de Contenson und van Liere selbst die Untersuchungen vor Ort. Ihre Arbeit legte den Grundstein für unser heutiges Verständnis dieser antiken Stätte. Nach einer Pause von über einem Jahrzehnt erwachte das wissenschaftliche Interesse an dem Tell erneut. Im Jahr 1976 kehrten die Archäologen zurück, dieses Mal unter der Leitung eines vierköpfigen Expertenteams. Peter Akkermans, Maurits van Loon, J. J. Roodenberg und H. H. T. Waterbolk setzten die Grabungen fort und brachten während ihrer bis 1978 andauernden Kampagne zahlreiche neue Erkenntnisse ans Tageslicht.
Architektur und Struktur von Bouqras
Einblicke in die Bauweise und Entwicklung einer neolithischen Siedlung über Jahrtausend
Im Laufe der archäologischen Untersuchungen enthüllte der Tell seine beeindruckende Tiefe von etwa 4,5 Metern. Diese scheinbar bescheidene Erhebung barg in Wahrheit eine faszinierende Chronik menschlicher Besiedlung, die sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckte. Von circa 7400 bis 6200 v. Chr. hinterließen die Bewohner ihre Spuren in insgesamt elf Besiedlungsschichten. Die ältesten Schichten, nummeriert von 11 bis 8, offenbarten eine Überraschung für die Forscher: Sie stammten aus dem frühen Neolithikum und waren noch frei von Keramik. Diese Entdeckung bot wertvolle Einblicke in eine Zeit, als die Menschen gerade erst begannen, sesshaft zu werden. Mit den darauf folgenden Schichten 7 bis 1 zeichnete sich ein bemerkenswerter Wandel ab. Die Bewohner hatten die Kunst der Keramikherstellung entdeckt und perfektioniert. Dies spiegelte sich in der immensen Zahl von über 7000 geborgenen Keramikscherben wider – jede einzelne ein Zeugnis vergangener Handwerkskunst und Alltagskultur.
Besonders faszinierend war die Tatsache, dass Überreste aus den jüngeren Besiedlungsphasen bereits an der Oberfläche des Tells sichtbar waren, als er erstmals entdeckt wurde. Dies verdeutlicht die Schichtung der Geschichte, die dieser Ort in sich birgt. Die Architektur der Siedlung zeugte von einer bemerkenswerten Ordnung und Planung. Die Häuser, vorwiegend aus Lehmziegeln erbaut, folgten einem durchdachten Muster. Ihre rechteckige Form mit typischerweise drei oder vier Räumen deutet auf eine entwickelte Wohnkultur hin. Die Anordnung der Gebäude, ihre Eingänge, Feuerstellen und andere architektonische Merkmale lassen auf eine gut organisierte Gemeinschaft schließen. Diese sorgfältige Strukturierung der Siedlung gibt Einblick in das soziale Gefüge und die Lebensweise der damaligen Bewohner. Sie zeigt, dass bereits vor Jahrtausenden Menschen in der Lage waren, komplexe Siedlungen zu planen und zu errichten, die ihren Bedürfnissen und ihrer Umgebung angepasst waren. Die Ausgrabungen an diesem Tell haben nicht nur Artefakte ans Tageslicht gebracht, sondern eine ganze Welt wiederentdeckt – eine Welt, die von den frühen Anfängen der Sesshaftigkeit bis hin zu entwickelten neolithischen Gemeinschaften reicht. Jede Schicht, jedes Gebäude und jede Scherbe erzählt eine Geschichte von Innovation, Anpassung und menschlichem Einfallsreichtum in einer Zeit des großen Wandels.
Die Kultur von Bouqras
Kunst, Handel und das alltägliche Leben in einer isolierten Siedlung
Die Siedlung Bouqras entwickelte sich in bemerkenswerter Isolation, ein einsamer Vorposten der Zivilisation in einer weitgehend unbesiedelten Gegend. Diese Abgeschiedenheit führte zur Herausbildung einer einzigartigen kulturellen Identität, die sich in den archäologischen Funden deutlich widerspiegelt. Die Innenräume der Gebäude in Bouqras zeugen von einem ausgeprägten ästhetischen Sinn der Bewohner. Weiß getünchte Wände bildeten den Hintergrund für gelegentliche künstlerische Ausdrucksformen. Besonders bemerkenswert sind die mit rotem Ocker ausgeführten Dekorationen, unter denen Vogeldarstellungen hervorstechen. Diese frühen Kunstwerke geben Einblick in die spirituelle und symbolische Welt der damaligen Menschen. Im Laufe der Zeit wuchs die Siedlung beträchtlich. Schätzungen zufolge beherbergte Bouqras in seinen späteren Phasen eine beeindruckende Gemeinschaft von 700 bis 1000 Dorfbewohnern. Diese Größe deutet auf eine gut organisierte Gesellschaft hin, die in der Lage war, eine solche Bevölkerungszahl zu ernähren und zu versorgen.
Die materiellen Hinterlassenschaften von Bouqras erzählen von weitreichenden Handelsbeziehungen und hochentwickeltem Handwerk. Große Mengen gefundenen Obsidians weisen auf Verbindungen mit Anatolien hin, was die Existenz früher Handelsrouten über beträchtliche Entfernungen belegt. Lokale Ressourcen wurden ebenfalls geschickt genutzt, wie eine charakteristische Gruppe von Gefäßen aus Kalkstein, Alabaster und Gips zeigt. Die Bewohner von Bouqras legten offenbar großen Wert auf persönlichen Schmuck. Archäologen entdeckten eine Vielfalt von Perlen aus unterschiedlichen Materialien wie Knochen, Muschelschalen, Grünsteinen, Karneol und Dentalium. Ein Fragment eines Alabasterarmbands und ein Anhänger unterstreichen den Sinn für persönliche Ausschmückung. Besonders faszinierend sind die gefundenen Steinstempelsiegel, darunter Exemplare aus Alabaster und Jadeit, verziert mit eingeschnittenen geradlinigen Mustern. Diese Siegel, zusammen mit einigen Tonfiguren, deuten auf eine komplexe gesellschaftliche Organisation und möglicherweise frühe Formen der Verwaltung hin. Die Keramikproduktion in Bouqras begann in der dritten Besiedlungsphase. Die Vielfalt der verwendeten Materialien und Techniken – von weißen Gipsgefäßen bis hin zu groben und feinen Scherben aus Stroh- und Sandmischungen – zeugt von einer sich entwickelnden Handwerkskunst. Einige Scherben wiesen Politur oder rote Bemalung auf, eine sogar mit einem dreieckigen Muster, was auf erste Ansätze dekorativer Keramik hindeutet. Die Waffenherstellung in Bouqras war ebenfalls beachtlich. Unter den gefundenen Pfeilspitzen finden sich Byblos-Spitzen und zwei Arten von Amuq-Spitzen, neben zwei weiteren charakteristischen Designs. Dies deutet auf eine Vielfalt von Jagd- oder Verteidigungstechniken hin. Die verwendeten Feuersteine stammten meist aus lokalen Quellen und waren von feiner, dunkelgrauer oder brauner Qualität. Dies unterstreicht die Fähigkeit der Bewohner, die natürlichen Ressourcen ihrer Umgebung effektiv zu nutzen. Insgesamt zeichnet sich das Bild einer blühenden neolithischen Gemeinschaft, die trotz ihrer relativen Isolation eine reiche materielle Kultur entwickelte. Die Funde aus Bouqras geben uns einen faszinierenden Einblick in das Leben, die Kunst und das Handwerk einer Gesellschaft am Übergang zur sesshaften Lebensweise.
Landwirtschaft und Tierhaltung in Bouqras
Die Versorgung einer neolithischen Gemeinschaft durch Ackerbau und Viehzucht
Die Erkenntnisse zur Landwirtschaft und Tierhaltung in Bouqras, gewonnen durch sorgfältige paläobotanische Untersuchungen und archäozoologische Analysen, zeichnen ein faszinierendes Bild des frühen neolithischen Lebens in dieser Region. Willem van Zeist, ein renommierter Paläobotaniker, führte bahnbrechende Studien an den karbonisierten Pflanzenresten durch, die mittels Wasserflotation geborgen wurden. Seine Forschungen enthüllten, dass die Bewohner von Bouqras bereits eine erstaunlich vielfältige und entwickelte Form des Regenfeldbaus betrieben. Auf den Feldern rund um die Siedlung wuchsen verschiedene Getreidesorten: Emmer und Einkorn, zwei ursprüngliche Weizenarten, sowie freiwachsender Weizen, der möglicherweise eine Übergangsform zwischen wilden und vollständig domestizierten Sorten darstellt. Darüber hinaus kultivierten die frühen Bauern sowohl bespelzte als auch nackte Gerste – ein Zeichen für fortgeschrittene landwirtschaftliche Kenntnisse. Die Vielfalt wurde durch den Anbau von Hülsenfrüchten wie Erbsen und Linsen ergänzt, die nicht nur die Ernährung bereicherten, sondern auch zur Bodenfruchtbarkeit beitrugen.
Interessanterweise fanden sich Werkzeuge wie Sichelklingen, Mahlsteine und Stößel vorwiegend in den frühen Besiedlungsphasen von Bouqras, während sie in späteren Schichten seltener wurden. Dies könnte auf Veränderungen in den landwirtschaftlichen Praktiken oder in der Arbeitsteilung innerhalb der Gemeinschaft hindeuten. Ein bemerkenswerter Fund war die sogenannte „Weiße Ware„ – Körbe, die mit einer undurchlässigen Substanz beschichtet wurden, um sie als Behältnisse für Flüssigkeiten oder Getreide nutzen zu können. Diese innovative Technik zeugt von der Anpassungsfähigkeit und dem Erfindungsreichtum der Bewohner. Die Tierhaltung in Bouqras war ebenso beeindruckend wie die pflanzliche Produktion. Von den über 5800 identifizierbaren Tierknochenresten stammten etwa 80% von Schafen und Ziegen. Diese hohe Konzentration deutet auf eine spezialisierte Kleinviehwirtschaft hin, die wahrscheinlich nicht nur Fleisch, sondern auch Milch, Wolle und Häute lieferte.
Neben den dominierenden Schaf- und Ziegenherden gab es auch Hinweise auf die Haltung von Schweinen und Vieh wie Rinder. Allerdings ist der genaue Domestikationsgrad dieser Tiere noch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen. Es bleibt unklar, ob es sich um vollständig domestizierte Tiere oder um Übergangsformen zwischen wilden und zahmen Populationen handelte. Die Jagd spielte trotz der entwickelten Viehzucht weiterhin eine Rolle in der Ernährungswirtschaft von Bouqras. Knochenreste von Hirschen, Gazellen und Onagern (Wildeseln) belegen, dass die Bewohner ihr Nahrungsangebot durch die Jagd auf Wildtiere ergänzten. Diese Kombination aus Landwirtschaft, Viehzucht und Jagd deutet auf eine ausgewogene und resiliente Subsistenzstrategie hin, die es der Gemeinschaft ermöglichte, verschiedene Ressourcen zu nutzen und sich an mögliche Schwankungen in der Verfügbarkeit einzelner Nahrungsquellen anzupassen. Die landwirtschaftlichen und tierzüchterischen Praktiken in Bouqras geben uns einen faszinierenden Einblick in die Lebensweise einer frühen neolithischen Gesellschaft. Sie zeigen, wie Menschen vor über 9000 Jahren begannen, ihre Umwelt aktiv zu gestalten und zu nutzen, und legen damit den Grundstein für die späteren komplexen Zivilisationen des Nahen Ostens.
Präkeramisches Neolithikum B
STECKBRIEF
01
Name
Bouqras (auch: Buqras)
02
Alter
ca. 7400 – 6200 v. Chr.
03
Ort
Etwa 35 Kilometer von Deir ez-Zor, Syrien
04
Größe
Etwa 5 Hektar
05
Entdeckung und Ausgrabungen
- Entdeckt: 1960 durch Willem van Liere (niederländischer Geomorphologe)
- Ausgrabungsphasen:
- 1960-1965: Henri de Contenson und Willem van Liere
- 1976-1978: Peter Akkermans, Maurits van Loon, J. J. Roodenberg und H. H. T. Waterbolk
06
Archäologische Befunde
- Tiefe des Tells: ca. 4,5 Meter
- Besiedlungsschichten: 11 Perioden
- Bevölkerung: Schätzungsweise 700-1000 Einwohner in späteren Phasen
07
Architektur
- Haustyp: Rechteckige Lehmziegelhäuser mit 3-4 Räumen
- Besonderheiten: Weiß verputzte Wände, teilweise mit rotem Ocker dekoriert
08
Materielle Kultur
- Keramik: Ab der 3. Wohnphase, über 7000 Scherben geborgen
- Werkzeuge: Sichelklingen, Mahlsteine, Stößel (v.a. in frühen Phasen)
- Schmuck: Perlen aus verschiedenen Materialien, Alabasterarmband, Anhänger
- Besondere Funde: Steinstempelsiegel, Tonfiguren, „Weiße Ware“ (beschichtete Körbe)
09
Landwirtschaft
- Anbau: Emmer, Einkorn, freiwachsender Weizen, Gerste, Erbsen, Linsen
- Methode: Regenfeldbau
10
Tierhaltung und Jagd
- Hauptsächlich: Schafe und Ziegen (ca. 80% der Tierreste)
- Weitere Haustiere: Schweine, Rinder (Domestikationsgrad unsicher)
- Jagdwild: Hirsche, Gazellen, Onager
11
Handelsbeziehungen
- Fernhandel: Große Mengen Obsidian (vermutlich aus Anatolien)
- Lokale Ressourcen: Kalkstein, Alabaster, Gips für Gefäßherstellung
12
Besonderheiten
- Große neolithische Siedlung in relativer Isolation
- Frühe Formen der Kunst (Vogeldarstellungen an Wänden)
- Vielfältige Subsistenzstrategie (Landwirtschaft, Viehzucht, Jagd)
- Bedeutende Größe von 5 Hektar für eine neolithische Siedlung