Die prähistorische Evolution... ca. ca. 200.000 bis 30.000 Jahre vor heute

Denisova-Mensch

Die Denisova-Menschen waren eine Unterart der Gattung Homo, eng mit den Neandertalern und dem anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens) verwandt, aber genetisch unterscheidbar. In der wissenschaftlichen Literatur werden sie auch als Denisova-Homininen oder kurz Denisovaner bezeichnet.

denisova mensch

Im Jahr 2010 gelang es Johannes Krause und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, die DNA aus den Mitochondrien (mtDNA) eines Fingerknochens zu sequenzieren. Die Veröffentlichung dieser DNA-Analyse sorgte weltweit für Aufsehen, da das Fossil als Beweis für eine bis dahin unbekannte Population der Gattung Homo galt, die eng mit Neandertalern und anatomisch modernen Menschen verwandt ist. Später wurde auch die Analyse der DNA aus den Zellkernen des Knochens veröffentlicht, die die relative Eigenständigkeit der Denisova-Population bestätigte. Somit existierte neben den bekannten Populationen des Neandertalers und des Homo floresiensis eine dritte Gruppe von entfernten, aber eindeutig zur Gattung Homo gehörenden Verwandten des anatomisch modernen Menschen.

2008 in der Denissowa-Höhle entdecktes Fingerglied (Replik) eines Denisova-Menschen

 Die Denisova-Fossilien sind am engsten mit den Neandertaler-Funden aus der Vindija-Höhle und der Mesmaiskaja-Höhle verwandt. Obwohl die Funde aus der Denissowa-Höhle ursprünglich keiner neuen Art oder Unterart zugeordnet wurden, wurden sie später als „einer bisher unbekannten Art“ klassifiziert. Die Denisova-Menschen lebten vor etwa 76.000 bis 52.000 Jahren während der Altsteinzeit im Altai-Gebirge im südlichen Sibirien und vor rund 160.000 Jahren in Tibet. Die Existenz dieser Population ist bisher nur durch wenige kleine Fossilien aus der Denissowa-Höhle nachgewiesen, darunter der Knochen eines kleinen Fingers, zwei hintere Backenzähne und ein Unterkiefer aus Tibet.

Fundgeschichte und Datierung des Denisova-Menschen

Die verlorenen Spuren des Denisova Menschen

Die Denissowa-Höhle, auch bekannt als „Höhle von Denis“, wurde nahe der Grenze zu Kasachstan vom Naturkundemuseum von Nowosibirsk unter der Leitung der Archäologen Michail Schunkow und Anatoli Derewjanko von der Russischen Akademie der Wissenschaften ausgegraben. Die Höhle wurde seit den 1970er-Jahren intensiv erforscht, als Steinwerkzeuge im Moustérien– und Levallois-Stil entdeckt wurden, die den Neandertalern zugeschrieben wurden. Unterschiedlich alte Fundhorizonte in der Höhle lassen auf verschiedene Nutzungen durch vorzeitliche Menschen schließen. Im Jahr 2000 wurde der erste Backenzahn, Denisova 4, freigelegt, konnte jedoch nicht sicher einer bestimmten Homo-Art zugeordnet werden. Das Fingerglied Denisova 3, ein Phalanx distalis, wurde 2008 entdeckt und stammt vermutlich von einem fünf- bis siebenjährigen Kind und ist 48.000 bis 30.000 Jahre alt. 2011 wurde der Fund eines äußeren Zehengliedknochens vom linken Fuß bekannt gegeben, Denisova 5, der jedoch später als von einem Neandertaler stammend identifiziert wurde. 2015 wurde ein weiterer Backenzahn, Denisova 8, gefunden.

Der Eingang zur Denisova-Höhle. © IAET, Siberian Branch Russian Academy of Sciences

Im März 2017 wurden in der Fachzeitschrift Science zusammengehörige Fragmente von zwei Schädelkalotten aus Lingjing, Xuchang, Volksrepublik China, beschrieben, die 125.000 bis 105.000 Jahre alt sind und möglicherweise den Denisova-Menschen zuzuordnen sind. Anfang 2019 wurden in der Fachzeitschrift Nature zwei Studien veröffentlicht, die die Besiedelung der Höhle mittels optisch stimulierter Lumineszenz und einer Variante der Massenspektrometrie (ZooMS) datierten. Die ältesten Belege für Denisova-Menschen sind mindestens 200.000 Jahre alt, wie durch die Analyse von mtDNA aus einem Knochenfund bestätigt wurde. Das „Mischlingskind“ Denisova 11 wird auf etwa 100.000 Jahre datiert. Der jüngste Knochenfund, Denisova 14, ist etwa 46.300 ± 2600 Jahre alt, aber seine Zugehörigkeit zu den Denisova-Menschen ist unsicher. Somit ist der jüngste gesicherte Beleg für ihre Existenz 76.000 bis 52.000 Jahre alt. Die Besiedlung der Höhle war episodisch und nicht kontinuierlich, insbesondere während der Zwischeneiszeiten. Der Unterkiefer aus Tibet, der 2019 vorgestellt wurde, ist rund 160.000 Jahre alt.

Die Analyse der mtDNA aus dem Denisova-Fingerknochen

Entschlüsselung der Vergangenheit

Johannes Krause, ein Experte für die Analyse von Neandertaler-DNA, konnte aus 30 Milligramm pulverisiertem Material des Fingerknochens genügend mitochondrialer DNA (mtDNA) gewinnen, um die vollständige Nukleotidsequenz der mtDNA zu rekonstruieren. Diese mtDNA-Sequenz wurde mit denen von 54 heute lebenden Homo sapiens, der mtDNA-Sequenz eines jungpleistozänen Menschen aus Kostjonki 14 am Don (Südrussland), den vollständigen mtDNA-Sequenzen von sechs Neandertalern sowie mit denen eines Schimpansen und eines Bonobos verglichen. Im Durchschnitt unterscheiden sich Neandertaler und anatomisch moderne Menschen an 202 Nukleotid-Positionen der mtDNA, während die Anzahl der Abweichungen zwischen dem Denisova-Fund und dem anatomisch modernen Menschen mit 385 fast doppelt so groß ist. Durch den Vergleich dieser Daten mit den Abweichungen zwischen Mensch und Schimpanse (1462 Positionen) wurde abgeschätzt, dass sich die Entwicklungslinien des Denisova-Menschen und des anatomisch modernen Menschen vor 1.314.000 bis 779.000 Jahren getrennt haben, während die Entwicklungslinien von Homo sapiens und Neandertaler erst vor 618.000 bis 321.000 Jahren endgültig trennten.

2008 in der Denissowa-Höhle entdecktes Fingerglied (Replik) eines Denisova-Menschen
Ein derart kleines Stück des Fingerknochens – an seiner ursprünglichen Stelle in der Hand platziert – genügte den Forschern als DNA-Lieferant. © Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie

Daraus wurde geschlossen, dass es im Altai vor etwa 60.000 Jahren neben Homo sapiens und den Neandertalern noch eine dritte Population der Gattung Homo gab, die unabhängig von diesen beiden Arten dorthin eingewandert ist. Die Zuverlässigkeit der Datierung von verwandtschaftlichen Verhältnissen allein anhand der mtDNA ist jedoch umstritten, da Mitochondrien ohne Rekombination ausschließlich über die Mutter vererbt werden. Sie sind daher in besonderem Maße Gendrift und Genfluss ausgesetzt, was bedeutet, dass in kurzer Zeit relativ viele Veränderungen auftreten können. Im Gegensatz dazu weist die Zellkern-DNA zehntausende Genloci auf, die „evolutionsneutral“ sind und sich daher weniger schnell und weniger diskontinuierlich verändern. Im Jahr 2019 wurde die mtDNA eines Knochenfragments gewonnen und mit der mtDNA des Fossils Denisova 3 verglichen, wobei festgestellt wurde, dass dieses Fragment zu Denisova 3 gehört. Eine virtuelle Rekonstruktion ergab, dass dieser Fingerknochen demjenigen eines anatomisch modernen Menschen sehr ähnlich ist, nicht jedoch demjenigen eines Neandertalers, was darauf hindeutet, dass der Bau des Fingers ein plesiomorphes Merkmal zu sein scheint.

Analyse der DNA aus Zellkernen des Fingerknochens

ein Genetischer Blick in die Vergangenheit

Die Leipziger Forscher kündigten im März 2010 an, dass sie nach der Sequenzierung der mtDNA auch die vollständige DNA aus den Zellkernen des Fossils sequenzieren würden. Zu dieser Zeit war bereits bekannt, dass das Fossil, das von den Forschern inoffiziell als „X-Woman“ bezeichnet und als „Mädchen“ beschrieben wurde, kein Y-Chromosom besaß, was darauf hindeutete, dass es sich um ein weibliches Kind handelte. Am 8. Februar 2012 veröffentlichte das Leipziger Forscherteam schließlich die gesamte Genomsequenz aus dem Zellkern der Denisova-Menschen online, damit sie für jedermann frei zugänglich ist. 

Die Zellkern-DNA des Fingerknochens erwies sich dabei als ungewöhnlich gut erhalten. Eine Verbesserung der Untersuchungstechnik ermöglichte es, jede Base innerhalb des Denisova-Genoms dreißigmal zu sequenzieren. Die dafür benötigte DNA wurde aus weniger als zehn Milligramm des Fingerknochens gewonnen. Die aktuelle Auflösung ermöglicht sogar die Unterscheidung zwischen den Genkopien, die das Individuum von seiner Mutter und seinem Vater geerbt hatte.

Verwandtschaft mit den Neandertalern...

denisova mensch_neandertaler

Im Dezember 2010 wurde berichtet, dass die DNA-Unterschiede zwischen Neandertalern und Denisova-Menschen darauf hindeuten, dass beide Populationen vor etwa 640.000 Jahren endgültig voneinander getrennt wurden, während ihre gemeinsamen Vorfahren sich vor rund 800.000 Jahren von den Vorfahren des Homo sapiens trennten. Diese Daten legen nahe, dass die Denisova-Menschen – entgegen der Interpretation der mtDNA-Befunde – enger mit den Neandertalern verwandt sind als mit dem anatomisch modernen Menschen, dem Homo sapiens. Die Ergebnisse solcher Berechnungen sind jedoch umstritten, da es nur Schätzungen für die genaue Rate der molekularen Uhr gibt, also für die Häufigkeit von Mutationen in vergangenen Epochen.

Ein Vergleich der DNA von Neandertaler-Funden aus der Vindija-Höhle und der Mesmaiskaja-Höhle ergab eine ungewöhnlich große genetische Nähe beider Funde und einen relativ großen genetischen Abstand beider Funde zum Denisova-Fossil. Daraus wurde geschlossen, dass Neandertaler und Denisova-Menschen zwei über längere Zeit hinweg genetisch isolierte Populationen waren, dass sie jedoch miteinander enger verwandt sind als mit Homo sapiens. Es wurde auch festgestellt, dass die Neandertaler nach der Trennung von den Vorfahren der Denisova-Population durch einen genetischen Flaschenhals gegangen sind, was zu einer starken genetischen Verarmung führte. Aufgrund dieser Besonderheiten wurde erstmals eine vorzeitliche Population der Gattung Homo allein anhand molekularbiologischer Daten von verwandten Populationen – analog zu Neandertalern auf Englisch als Denisovans bezeichnet – separiert.

Dieses Knochenfragment ("Denisova 11") wurde 2012 in der Denisova-Höhle in Russland von russischen Archäologen entdeckt und gehörte der Tochter einer Neandertaler-Mutter und eines Denisovaner-Vaters.

Die errechnete langanhaltende genetische Isolation der Neandertaler-Populationen von denen der Denisova-Menschen verhinderte jedoch nicht, dass es vor mindestens 50.000 Jahren noch zur Zeugung von gemeinsamem Nachwuchs kam. Eine Studie aus dem Jahr 2018 zeigt, dass aus dem Fossil Denisova 11 – einem kleinen Fragment eines Röhrenknochens – DNA gewonnen und sequenziert wurde. Das Fossil gehörte zu einer vermutlich mindestens 13 Jahre alten Jugendlichen, deren Mutter eine Neandertalerin und deren Vater ein Denisovaner war. 

 Weitere Analysen des Genoms ergaben, dass auch der Vater der Frau wenigstens einen Neandertaler unter seinen Vorfahren hatte. Die Forscher stellten fest, dass die Mutter genetisch näher mit Neandertalern verwandt war, die in Westeuropa lebten, als mit einem Neandertaler, der zu einem früheren Zeitpunkt in der Denissowa-Höhle gelebt hatte. Dies deutet darauf hin, dass die Neandertaler Zehntausende von Jahren vor ihrem Verschwinden zwischen West- und Ost-Eurasien migrierten. Es könnte auch zu einer Verpaarung von Neandertaler-Denisova-Mischlingen mit den aus Afrika zuwandernden Gruppen des Homo sapiens gekommen sein.

Ausgrabungsarbeiten: Aus einem in der Höhle gefundenen Fingerknochen isolierten Genforscher vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie das Erbgut eines Denisova-Mädchens. Foto: MPI EVA / Bence Viola

Genfluss zu Homo sapiens

Der Einfluss der Denisova-Menschen auf Homo sapiens

Im Mai 2010 wurde eine Studie veröffentlicht, die einen Genfluss von den Vindija-Neandertalern zu Homo sapiens nachwies. Daraufhin wurde die genetische Distanz des Denisova-Fossils zu heute lebenden Ethnien analysiert, wobei Daten von 938 Menschen aus 53 Populationen verwendet wurden. Es stellte sich heraus, dass das Denisova-Fossil den heute lebenden europäischen, asiatischen und afrikanischen Menschen näher steht als den Neandertalern. Eine signifikante Nähe zur DNA von Menschen aus Melanesien wurde festgestellt, was darauf hindeutet, dass das Genom der Melanesier sowohl von Neandertalern (2,5 ± 0,6 Prozent) als auch von Denisova-Menschen (zusätzliche 4,8 ± 0,5 Prozent) stammt. Insgesamt stammen also 7,4 ± 0,8 Prozent des Genoms der Melanesier von einer früheren Vermischung mit archaischen Homininen ab. Im September 2011 wurden weitere genetische Befunde veröffentlicht, die auf einem Vergleich der DNA von 33 heute lebenden Populationen aus Asien und Ozeanien mit denen des Denisova-Fossils beruhten.

Dabei wurden Denisova-DNA-Spurenauch bei den Aborigines in Australien, bei den Mamanwas auf den Philippinen sowie im Osten von Indonesien nachgewiesen. Die Autoren interpretierten den Nachweis von Denisova-DNA in Ost-Indonesien, Australien, Papua-Neuguinea, Fidschi und Polynesien als Beleg dafür, dass die genetische Vermischung in Südostasien stattgefunden haben könnte. Eine weitergehende Analyse der Denisova-DNA im Jahr 2012 ergab, dass Allele nachgewiesen werden konnten, die mit dunkler Haut, braunem Haar und braunen Augen verbunden sind. Es wurde auch festgestellt, dass das Denisova-Genom eine sehr geringe Heterozygotie aufweist. Dies bedeutet, dass die Denisova-Menschen genetisch weniger vielfältig waren als heutige afrikanische, eurasische und indigene Bevölkerungsgruppen.

Karte der möglichen Verbreitung archaischer Homininen, einschließlich H. erectus, H. floresiensis, H. neanderthalenesis, Denisovans und archaiische afrikanische Hominine in der Alten Welt zur Zeit der Evolution und Ausbreitung des H. sapiens zwischen vor rund 300.000 bis 60.000 Jahren. Grafik: Roberts and Stewart. 2018. Defining the »generalist specialist« niche for Pleistocene Homo sapiens. Nature Human Behaviour. 10.1038/s41562-018-0394-4.

Morphologie und DNA der Backenzähne

Zähne als Zeitzeugen: Die Morphologie und DNA der Denisova-Menschen

Im Jahr 2000 wurde ein fast vollständig erhaltener Backenzahn entdeckt, der aufgrund seiner mtDNA ebenfalls den Denisova-Menschen zugeordnet wurde, jedoch einem anderen Individuum als der Fingerknochen. Dieser Zahn ist außergewöhnlich groß und überragt sowohl die Backenzähne der Neandertaler als auch die des anatomisch modernen Menschen in Größe und Form. Sollte es sich um einen Molar M2 handeln, wäre er ähnlich groß wie der entsprechende Backenzahn von Homo erectus und Homo habilis. Sollte es sich um einen Molar M3 handeln, wäre er vergleichbar mit dem Molar M3 eines Australopithecus. Die Morphologie des Zahnfunds unterstützt die aus der Analyse der mtDNA abgeleitete große genetische Distanz der Denisova-Fossilien zu anderen ähnlich alten Populationen der Gattung Homo.

Backenzahn Denisova 4 (Original)
Denisova 8
Denisova 8

Im Jahr 2015 wurde der Fund eines zweiten Backenzahns bekannt gegeben (Denisova 8) und dessen Zellkern-DNA sowie mt-DNA mit den Daten des zuerst entdeckten Zahns (Denisova 4) verglichen. Auch dieser Zahn ist recht groß und stammt aus einer etwas tieferen Fundschicht als Denisova 4, was darauf hindeutet, dass er älter ist. Die Analyse der Zellkern-DNA von beiden Zähnen ergab eine enge genetische Nähe zur DNA aus den Zellkernen des Fingerknochens und bestätigte zudem die genetische Distanz der Fossilien zu den Neandertalern. Die gleichen Befunde ergaben sich aus der Analyse der mt-DNA beider Zähne. Somit gelten nunmehr Belege für drei Individuen der Denisova-Menschen als gesichert, und der Altersunterschied der Zähne belegt die Existenz der Population über eine längere Zeitspanne.

Morphologie und DNA des Zehenknochens

Die Morphologie und DNA des Zehenknochens der Denisova-Menschen

Der 2011 erstmals beschriebene distale Zehenknochen stammt entweder von der 4. oder von der 5. (der kleinen) Zehe eines erwachsenen Individuums. Der Knochen zeichnet sich durch seine außergewöhnliche Länge und seinen kräftigen, breiten Schaft aus. Das Verhältnis von Breite zu Höhe ähnelt eher den älteren pleistozänen Vertretern der Gattung Homo als den modernen. Einige Merkmale des Knochens liegen zwischen denen der Neandertaler und dem frühen modernen Menschen. Die größte Ähnlichkeit zeigt der Knochen mit dem Neandertaler-Fossil Shanidar-4 und dem Homo-sapiens-Fossil Tianyuan 1.

Bereits 2011 wurde darauf hingewiesen, dass eine Analyse des Genmaterials Klarheit über die stammesgeschichtliche Einordnung des Knochens geben könnte. Im Jahr 2013 berichtete die Forschergruppe um Svante Pääbo, dass die DNA des Knochens zu 60 Prozent der eines Neandertalers entspricht. Zudem ergab die Analyse, dass die DNA der jeweils homologen Chromosomen so weitgehend identisch ist, dass der Knochen vermutlich von einem Kind eines Cousins und einer Cousine ersten Grades stammt. Aus den Daten wurde geschlossen, dass 0,5 bis 8 % der DNA des Denisova-Menschen vor rund 300.000 Jahren von einer bislang unbekannten Population der Gattung Homo ins Denisova-Genom eingeführt wurde. Diese Population hatte sich vor mehr als 1 Million Jahren von den gemeinsamen Vorfahren der Neandertaler, der Denisova-Menschen und der anatomisch modernen Menschen abgespalten. Im Jahr 2022 wurde Svante Pääbo für seine Arbeit auf dem Gebiet der evolutionären Genetik der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin zuerkannt.

Fossil Denisova 5 In der Denissowa-Höhle gefundener Zehenknochen Grundglied eines Neandertalers mit Beprobungsspuren Original

Ihre Verbreitung und genetische Signatur

"Auf den Spuren der Denisova-Menschen

Das Verbreitungsgebiet der Denisova-Menschen ist aufgrund der begrenzten Funde bisher unklar. Eine Studie von 2010 deutete jedoch darauf hin, dass diese Population möglicherweise in großen Teilen von Ostasien lebte, während die Neandertaler in Europa und Westasien präsent waren. Diese Annahme basiert zum einen darauf, dass es einen Genfluss zu den Vorfahren der Melanesier gab, der jedoch wahrscheinlich nicht in Südsibirien stattfand. Zum anderen unterstützt die höhere genetische Variabilität im Vergleich zu den Neandertalern die Idee eines größeren Verbreitungsgebiets.

Spurensuche in China

Auf der Suche nach genetischen Relikten

Seit 2008 betreibt das Team von Svante Pääbo in Peking ein Labor, das nach Fossilien-DNA aus chinesischen Beständen sucht. Eine Kooperation zwischen deutschen und chinesischen Forschern ergab Anfang 2013, dass das rund 40.000 Jahre alte Homo-sapiens-Fossil Tianyuan 1 aus der Nähe von Peking keinen größeren Anteil an Neandertaler– oder Denisova-DNA aufweist als heute in Nordchina lebende Menschen. Bisher konnten jedoch aus anderen Fundstücken keine weiteren Überreste von alter DNA nachgewiesen werden. Es wird angenommen, dass die Besiedelung Ostasiens durch den anatomisch modernen Menschen bis zu 300.000 Jahre zurückreichen könnte. Im Juli 2011 äußerten sowohl Chris Stringer als auch Milford H. Wolpoff die Möglichkeit, dass einige Fossilien, die weder eindeutig Homo erectus noch dem anatomisch modernen Menschen zugeordnet werden konnten, den Denisova-Menschen zugeschrieben werden könnten.

Dazu gehören Funde wie der Dali-Mensch, der Jinniushan-Mensch, sowie möglicherweise auch Funde aus Yunxian und Narmada in Indien. Eine Analyse des fossilen großen Backenzahns CA 673, die 2022 veröffentlicht wurde, ergab, dass dieser Fund aufgrund seiner Merkmale den Fossilien Denisova 4 und Denisova 8 sowie dem Fund Xujiayao 1 ähnelt, die dem sogenannten Xujiayao-Menschen zugeordnet werden. Dies deutet darauf hin, dass der Backenzahn den Denisova-Menschen zugeschrieben werden kann. Der Zahn wurde 1957 von Gustav Heinrich Ralph von Koenigswald in einer chinesischen Apotheke erworben und zunächst als Holotypus einer neu eingeführten Art namens „Hemanthropus peii“ ausgewiesen. Sollte dieser Zahn tatsächlich der früheste Fund eines Denisova-Menschen sein, würde gemäß den Regeln der Zoologischen Nomenklatur der 1957 eingeführte Artname Vorrang vor späteren Vorschlägen für einen Denisova-Artnamen haben.

Zahnfund in Laos

Im Dezember 2018 wurde in der Fossilienlagerstätte Tam Ngu Hao 2, auch bekannt als „Kobra-Höhle 2“, in der Provinz Houaphan im nördlichen Laos ein einzelner großer Backenzahn aus einem Unterkiefer entdeckt. Der Zahn war in Kalkstein eingebettet und wird auf ein Alter zwischen 164.000 und 131.000 Jahren geschätzt. Aufgrund seiner Merkmale wurde er als hominin klassifiziert. Der Zahn ist größer als der eines anatomisch modernen Menschen, weist eine komplexere Kaufläche als die Zähne von Homo erectus auf und besitzt Merkmale, die auf eine Verwandtschaft zum Neandertaler hinweisen.

Zahnfund aus Nord-Laos Blick auf die Kaufläche von TNH2-1
Der Xiahe-Unterkiefer, von dem nur die rechte Hälfte erhalten ist, wurde 1980 in der Baishiya Karst Höhle gefunden. Foto: © Dongju Zhang, Lanzhou University

Basierend auf verschiedenen morphologischen Übereinstimmungen mit den Backenzähnen des Xiahe-Unterkiefers wurde der Zahn aus der Kobra-Höhle (Sammlungsnummer TNH2-1) im Mai 2022 den Denisova-Menschen zugeschrieben. Dies stellt laut dieser Interpretation den ersten archäologischen Beleg für die Anwesenheit von Denisova-Menschen in Südostasien dar. Interessanterweise weist die Kaufläche des Zahns keine Abriebspuren auf, was darauf hinweist, dass der Zahn noch nicht durchgebrochen war und daher von einem Kind stammen könnte.

Erstbesiedelung von Tibet

Die Erstbesiedelung des Hochlands von Tibet durch den Denisova-Menschen wurde durch den Fund eines fossilen rechten Unterkiefers mit zwei gut erhaltenen, sehr großen Molaren M1 und M2 sowie mehreren vorderen Zähnen ohne Kronen dokumentiert. Dieser Fund wurde bereits im Jahr 1980 in der Baishiya-Höhle auf 3280 Metern Höhe in Ganjia, Xiahe, Provinz Gansu, Volksrepublik China, gemacht. Der Unterkiefer wurde von einem Mönch entdeckt und später der Lanzhou-Universität in Lanzhou übergeben. Forscher der Lanzhou-Universität begannen 2016 in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie mit der Untersuchung des Fossils.

Unterkiefer Fragment Penghu 1 Evolution, Vorgeschichte, Prähistorische Evolution

Der Unterkiefer weist Ähnlichkeiten mit den Fossilien aus Xujiayao und Xuchang sowie dem Fossil Penghu 1 von den Penghu-Inseln auf. Obwohl keine DNA-Proben aus dem Fossil gewonnen werden konnten, wurden Proteine aus Dentin analysiert, die eine enge Verwandtschaft mit denen aus der Denisova-Höhle zeigten. Die Uran-Thorium-Datierung der Kalkkrusten auf dem Unterkiefer ergab ein Alter von annähernd 160.000 Jahren, was das Fossil zum bisher ältesten bekannten Beleg für die Anwesenheit eines Vertreters der Hominini im Hochland von Tibet macht. Dieser Fund stellt das erste hominine Fossil dar, dessen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Population allein durch eine Protein-Bestimmung nachgewiesen wurde. Forscher interpretierten den Fund als Beleg dafür, dass Denisova-Menschen das Hochland von Tibet im Mittelpleistozän besiedelt und sich erfolgreich an die Sauerstoff-Mangelversorgung angepasst haben, lange bevor die Region durch den anatomisch modernen Menschen besiedelt wurde.

Genetische Spuren in Ozeanien

Die genetischen Spuren der Denisova-Menschen in Ozeanien zeigen, dass der Genfluss zu den Vorfahren der Melanesier und anderer Populationen in der Region unabhängig von dem in Ostasien stattgefunden haben könnte. Es wird vermutet, dass zwei Linien der Denisova-Menschen, die sich vor über 300.000 Jahren voneinander getrennt haben, Erbgut an die Vorfahren der Papua weitergegeben haben. Eine dieser Linien unterscheidet sich so stark von der anderen, dass sie möglicherweise als eigenständige Linie betrachtet werden könnte. Die genetischen Hinweise deuten darauf hin, dass die Denisova-Menschen erst vor etwa 30.000 Jahren ausgestorben sind und dass ihre genetischen Beiträge, insbesondere zur Ausbildung des Immunsystems, einen wichtigen Einfluss auf die heutigen Populationen in der Region hatten. Im Jahr 2021 ergaben Untersuchungen der Genotypen ethnischer Gruppen auf den Philippinen, dass die Negrito-Volksgruppe der Ayta Magbukon den bisher höchsten Grad an Übereinstimmung mit dem Erbgut der Denisova-Menschen aufweist. Dies legt nahe, dass diese Gruppe einen besonders signifikanten genetischen Beitrag von den Denisova-Menschen geerbt hat.

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Genetische Spuren in Spanien

Der Fund aus der Sima de los Huesos Höhle in Spanien Ende 2013 war in der Tat bemerkenswert. Aus einem etwa 400.000 Jahre alten Oberschenkelknochen eines Homo heidelbergensis gelang es, mitochondriale DNA (mtDNA) zu extrahieren und zu sequenzieren. Diese mtDNA wies eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der mtDNA der Denisova-Menschen auf, was darauf hindeutet, dass die Population, zu der der Eigentümer des Knochens gehörte, vor etwa 300.000 Jahren gemeinsame Vorfahren mit den Denisova-Menschen hatte. Dieser Befund legt nahe, dass die spanische Population des Homo heidelbergensis eine Vorfahren-Population besaß, aus der später sowohl die Neandertaler als auch die Denisova-Menschen hervorgingen.

400.000 Jahre alten Oberschenkelknochen eines Homo heidelbergensis
400.000 Jahre alten Oberschenkelknochen eines Homo heidelbergensis

Matthias Meyer, der Leiter der mtDNA-Studie, äußerte die Vermutung, dass die spanische Population des Homo heidelbergensis eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Neandertaler und der Denisova-Menschen gespielt haben könnte. Chris Stringer wies darauf hin, dass die als Homo antecessor bezeichneten Fossilien, die von spanischen Forschern entdeckt wurden, möglicherweise Kandidaten für diese Vorfahren-Population sind. Dieser Fund trägt wesentlich zum Verständnis der evolutionären Verwandtschaft zwischen den Denisova-Menschen, den Neandertalern und anderen Populationen der Hominini bei.

Mittelpaläolithikum

STECKBRIEF

01

Name

Denisova-Mensch (Homo sp. Denisova)

02

Alter

ca. 200.000 bis 30.000 Jahre vor heute

03

Entdeckungsjahre

  • 2008 (Fingerknochen)
  • 2010 (Zahn)
  • 2011 (distaler Zehenknochen)
  • 2013 (Genomsequenzierung)
  • 2018 (Zahnfund in Laos)
  • 2019 (Xiahe-Unterkiefer)

04

Fundorte

  • Denisova-Höhle (Altai-Gebirge, Russland)
  • Sima de los Huesos (Spanien)
  • Tam Ngu Hao 2 (Laos)
  • Xiahe (Provinz Gansu, China)

05

Physische Merkmale

  •  Überwiegend bekannt durch Fossilienfragmente wie Fingerknochen, Zähne, distale Zehenknochen und Unterkiefer.
  •  Große Backenzähne im Vergleich zu Neandertalern und anatomisch modernen Menschen.
  • Unterschiedliche genetische Anpassungen, darunter eine Variante des EPAS1-Gens, die die Atmungsanpassung in großen Höhen begünstigt.
  •  Genetische Ähnlichkeiten mit Neandertalern und anderen Populationen der Hominini.

06

Genetik

  • Eng verwandt mit Neandertalern und möglicherweise einer weiteren, unbekannten Population der Gattung Homo.
  • Genomsequenzierung enthüllte eine genetische Distanz zu Neandertalern und anatomisch modernen Menschen.
  • DNA-Analysen zeigten eine enge Verwandtschaft mit fossilen Funden aus der Denisova-Höhle sowie Funden aus China und Laos.

07

Verbreitungsgebiet

  • Verbreitet in Eurasien, möglicherweise auch in Südostasien.
  • Höhlenfunde in Russland, Spanien und Laos.
  •  Genetische Spuren zeigen mögliche Besiedelung in Tibet und Ozeanien.

08

Kulturelle und technologische Aspekte

Begrenzte Informationen über kulturelle und technologische Merkmale aufgrund fragmentarischer Fossilienfunde. Möglicherweise teilten sie bestimmte kulturelle Praktiken mit Neandertalern, basierend auf genetischen und archäologischen Hinweisen.

09

Aussterben

Aussterben vor etwa 30.000 Jahren basierend auf genetischen Befunden. Genetische Spuren könnten jedoch in einigen modernen menschlichen Populationen weiterleben.

10

Besonderheiten

Die Denisova-Menschen hinterließen genetische Spuren in modernen menschlichen Populationen, einschließlich einiger Ethnien in Ozeanien und Südostasien. Ihre genetische Diversität und ihre Anpassungsfähigkeit machen sie zu einem faszinierenden und wichtigen Bestandteil der menschlichen Evolutionsgeschichte.

STAMMBAUM, MÖGLICHE UND GESICHERTE VORFAHREN

Australopithecus afarensis 

ca. 3.8  – 2.9 Mio. J. v. Chr

Australopithecus africanus

ca. 3.4 – 2.1 Mio. J. v. Chr

Australopithecus garhi

ca. um 2.5 Mio. J. v. Chr

Homo
Rudolfensis

ca. 2.5  – 1.9 Mio. J. v. Chr

Homo
Habilis

ca. 2.1  – 1.5 Mio. J. v. Chr

Homo
Ergaster

ca. 1.9  – 1.4 Mio. J. v. Chr

Homo
Erectus 

ca. 1.9  – ? Mio. J. v. Chr

Homo
Heidelbergensis

ca. 600.000 – 200.000 J. v. Chr

Homo Neanderthalensis

ca. 400.000 – 30.000 J. v. Chr

Archaischer Homo Sapiens

ca. 200.000 – 100.000 J. v. Chr

Homo
Sapiens

ca. 315.000 J. v. Chr

Denisova
Mensch

ca. 200.000 – 30.000 J. v. Chr

Homo
Floresiensis

ca. 100.000 – 17.000 J. v. Chr

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