Die prähistorische Evolution... ca. 9750 - 9550v.Chr.
El Khiam
Die archäologische Fundstelle El Khiam (arabisch الخيام, DMG al-Ḫiyām), auch bekannt als El Khiam-Terrasse, befindet sich in der beeindruckenden Landschaft der judäischen Wüste im Westjordanland. Etwa 25 Kilometer südwestlich von Jericho und rund 10 Kilometer südöstlich von Bethlehem gelegen, thront die Stätte auf einer Kalksteinterrasse im Wadi Haritun, auch als Wadi Khareintun bekannt. Die Ausgrabungen vor Ort enthüllen eine faszinierende Schichtenabfolge, die sich vom Chalkolithikum bis hin zur Aurignacien-Kultur erstreckt. Besonders bedeutend ist El Khiam als namensgebende Fundstelle für das Khiamien – eine Epoche, die den entscheidenden Übergang zwischen dem Natufien und dem Sultanien (auch bekannt als präkeramisches Neolithikum A, PPN A) in der südlichen Levante markiert. Dieser kulturelle Wandel wird auf die Zeitspanne zwischen 9750 und 9550 v. Chr. kalibriert, unmittelbar nach dem Ende der jüngeren Dryas-Kaltzeit datiert.
Ausgrabungen in El Khiam
Entdeckungen, Schichtungen und archäologische Methode
Die archäologischen Untersuchungen an der Fundstelle El Khiam begannen 1933, als der französische Diplomat und Archäologe René Neuville einen ersten Testschnitt anlegte. Neuville, der selbst aufgrund einer Krankheit nicht an den Ausgrabungen teilnehmen konnte, identifizierte dabei zwei Hauptbesiedlungsphasen, die er in Schicht A (Tahunien I) und Schicht B (Tahunien II) unterteilte. Diese Nummerierung erfolgte von oben nach unten. Die Grabungsmethode sah oberflächenparallele Straten vor, also künstliche Schichten, die jeweils etwa einen Spatenstich tief waren. Allerdings war die Oberfläche des Geländes stark abschüssig und fiel zum Wadi hin ab, was die Ausgrabungen erschwerte. 1949 nahm der Archäologe Jean Perron auf Einladung Neuvilles die Fundstelle erneut in Augenschein. Er reinigte und untersuchte das noch sichtbare Profil des ursprünglichen Testschnitts und revidierte Neuvilles Interpretation der Schichten.
Schicht B ordnete Perron der Natufien-Kultur zu, während er die Schichten A3 dem Tahunien I und A2 dem Tahunien II zuwies. Die oberste Schicht A1 datierte er in das chalkolithische Ghazulien. In Schicht A2 wurden Funde wie Amuq– und Byblos-Spitzen, polierte Steinbeile und Keramik entdeckt. Schicht A3 enthielt hingegen Helwan-Spitzen, Jericho-Spitzen und geometrische Mikrolithen – ein klarer Hinweis auf die Vielfalt der Werkzeuge und Techniken, die an diesem Ort genutzt wurden. 1962 weitete Joaquín Gonzalez-Echegaray die Ausgrabungen aus und untersuchte eine Fläche von 36 Quadratmetern. Er erreichte jedoch nicht in allen Bereichen den gewachsenen Boden. Gonzalez-Echegaray datierte die Fundschichten in das sogenannte „Proto-Tahunien“ und „Tahunien“. Eine Einteilung des Fundmaterials in drei Bauschichten durch Gonzalez-Echegaray führte zu Diskussionen und wurde bald kritisiert, da sich herausstellte, dass die Funde durch den Bau von Schutzunterständen vermischt worden waren. Dies erschwerte eine exakte Zuordnung der Schichten und Funde, was den wissenschaftlichen Wert der ursprünglichen Stratigraphie teilweise beeinträchtigte.
Funde in El Khiam
Feuersteinwerkzeuge, Obsidianklingen und Kalkstein-Figurinen
Die Fundstelle El Khiam brachte eine beeindruckende Vielzahl von Artefakten ans Licht, von denen die meisten aus Feuerstein gefertigt sind. Diese Funde bieten wertvolle Einblicke in die Werkzeugtechnologien der damaligen Zeit. Ein besonders bemerkenswertes Artefakt ist eine Obsidianklinge, deren genaue stratigraphische Zuordnung jedoch unklar bleibt. Sie wurde entweder durch eine Oberflächenauflesung oder im Rahmen der Sondage von Jean Perron entdeckt und könnte aus Schicht A stammen. Die Herkunft des verwendeten Obsidians weist wahrscheinlich auf Anatolien hin, was auf weitreichende Handels- oder Austauschnetzwerke in dieser Epoche hindeutet. Neben den lithischen Funden wurden auch mehrere Kalkstein-Figurinen freigelegt. Diese Figuren zeigen auffällige Ähnlichkeiten mit denen, die an anderen bedeutenden Fundorten in der Region gefunden wurden, darunter Nahal Oren, Netiv Hagdud, Mureybit und Gilgal. Solche Figurinen deuten auf gemeinsame kulturelle Ausdrucksformen und möglicherweise auch religiöse oder symbolische Praktiken in der südlichen Levante hin. Sie veranschaulichen zudem die handwerklichen Fähigkeiten der damaligen Bewohner und deren Fähigkeit, verschiedene Materialien zu bearbeiten.
Wirtschaftsweise in El Khiam
Saisonale Jagd und Tiernutzung im präkeramischen Neolithikum
Die wirtschaftliche Grundlage der prähistorischen Gemeinschaften in El Khiam basierte vermutlich weitgehend auf der Jagd, wie die Analyse der Tierknochenfunde nahelegt. Tierknochen sind insgesamt selten, doch von den identifizierbaren Knochen stammen 90 % von Ziegen oder Steinböcken, was auf eine klare Präferenz für diese Tierarten hindeutet. Daneben machen Gazellen (Gazella montana) etwa 7 % der Funde aus. Andere Tiere wie Esel, Wildschweine und Wildrinder wurden nur vereinzelt gefunden, was darauf hindeutet, dass sie eine untergeordnete Rolle in der Subsistenz spielten. Der Archäozoologe Pierre Ducos stellte fest, dass die Capriden, also Ziegenartige, besonders klein waren und viele der Knochen von Föten stammen. Dies führt zu der Annahme, dass es sich überwiegend um weibliche Tiere handelte, die im späten Winter oder frühen Frühjahr gejagt wurden, kurz bevor sie ihre Jungen zur Welt brachten. Auch bei den Gazellen könnte dieses Muster zutreffen. In Schicht 3 wurden jedoch weniger Föten gefunden, was möglicherweise auf eine Veränderung der saisonalen Nutzung der Fundstelle hinweist. Diese Hinweise deuten darauf hin, dass die Besiedlung von El Khiam während der Zeit des präkeramischen Neolithikums A(PPN A) wahrscheinlich als saisonale Jagdstation diente. Die Jagdgruppen nutzten den Standort vermutlich nur während des späten Winters oder frühen Frühlings, um das Wild in einer Phase zu erlegen, in der es besonders leicht zu erbeuten war. Die saisonale Nutzung dieser Region war möglicherweise eng mit den klimatischen Bedingungen und den Wanderungsmustern der Tiere abgestimmt.
Datierung von El Khiam
Zeitliche Einordnung und die Bedeutung der Khiam-Spitzen
Die Datierung der Funde aus El Khiam ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der zeitlichen Einordnung der Besiedlung und der damit verbundenen Kulturen. Aus der Schicht Ib (Area IIb) stammt eine Radiokarbondatierung, die auf 2990 ± 250 Jahre vor heute (BP) unkalibriert bestimmt wurde. Diese Datierung basiert auf der Analyse von Knochenmaterial (Probenummer Lv-358) und gibt einen Hinweis auf die späte Nutzung der Fundstelle. El Khiam ist besonders bekannt als der Fundort, der den sogenannten „Khiam-Spitzen“ ihren Namen gab. Diese Pfeilspitzen, die typischerweise beidseitig gekerbt sind, weisen an ihrer Basis eine direkt oder invers konkav retuschierte Form auf. Die Khiam-Spitzen sind ein charakteristisches Merkmal des präkeramischen Neolithikums und wurden nicht nur in der gesamten südlichen Levante gefunden, sondern auch in der südöstlichen Türkei, unter anderem an den Fundorten Nemrik und Qermez Dere. In El Khiam selbst treten diese markanten Pfeilspitzen in Schicht 4 auf, was ihre Bedeutung als charakteristisches Werkzeug dieser Periode unterstreicht. Ihre Verbreitung über große Teile des Nahen Ostens zeugt von einer weitreichenden technologischen Innovation, die über regionale Grenzen hinweg Einfluss nahm und möglicherweise auch den Austausch zwischen verschiedenen prähistorischen Gemeinschaften förderte.
Proto-Neolithikum
STECKBRIEF
01
Name
El Khiam
02
Alter
ca. 9750 – 9550v.Chr.
03
Lage
Judäische Wüste, Westjordanland, ca. 25 km südwestlich von Jericho und 10 km südöstlich von Bethlehem, auf einer Kalksteinterrasse im Wadi Haritun/Khareintun
04
Entdecker
René Neuville (1933), Jean Perron (1949), Joaquín Gonzalez-Echegaray (1962)
05
Besondere Funde
- Obsidianklinge (vermutlich aus Anatolien)
- Kalkstein-Figurinen (ähnlich denen aus Nahal Oren, Netiv Hagdud, Mureybit, Gilgal)
- Khiam-Spitzen (beidseitig gekerbte Pfeilspitzen mit konkav retuschierter Basis)
06
Verbreitung der Khiam-Spitzen
Südliche Levante, Südosttürkei (Nemrik, Qermez Dere)
07
Datierung
- Schicht Ib (Area IIb): 2990 ± 250 BP (uncal., Knochen, Lv-358)
- Khiam-Spitzen in Schicht 4, Übergang vom Natufien zum Sultanien (9750–9550 v. Chr.)
08
Wirtschaft
- Schwerpunkt auf der Jagd, vor allem von Ziegen/Steinböcken (90 % der Knochenfunde) und Gazellen (7 %)
- Jagdstation, vermutlich im späten Winter/Frühjahr genutzt
09
Bedeutung
Eponyme Fundstelle für die Khiam-Spitzen, wichtige Erkenntnisse über den Übergang vom Mesolithikum zum Neolithikum in der südlichen Levante