Die prähistorische Evolution... ca. 4.900 – 4.700 v.Chr.
Großgartacher Kultur
Die Großgartacher Kultur, eine bedeutende archäologische Kultur des Mittelneolithikums, lässt sich in die erste Hälfte des 5. Jahrtausends v. Chr. datieren. Sie gehört zum Kulturenkomplex Hinkelstein-Großgartach-Rössen und spielte insbesondere in Südwestdeutschland eine zentrale Rolle. Ihren Namen verdankt sie dem Archäologen Alfred Schliz (1849–1915), der bei Ausgrabungen in Großgartach, heute ein Ortsteil von Leingarten im Landkreis Heilbronn, auf Überreste dieser Kultur stieß. Die großflächige Verbreitung dieser Kultur unterstreicht ihre Bedeutung für die neolithische Entwicklung in der Region.
Entdeckung und Deutung - Die Forschungsgeschichte der Großgartacher Kultur
Von den ersten Ausgrabungen bis zur modernen Analyse Wie archäologische Funde das Verständnis des Mittelneolithikums prägten
Im Jahr 1900 prägte Alfred Schliz den Begriff der „Großgartacher Kultur“ nach seiner Siedlungsgrabung in Großgartach bei Heilbronn. Ursprünglich ging er davon aus, dass diese Kultur zeitgleich mit der Rössener Kultur existierte. Durch eine detaillierte Stilanalyse der geborgenen Keramik argumentierte er später – in Übereinstimmung mit heutigen Forschungen – für die Einbindung der Großgartacher Kultur in den mittelneolithischen Kulturenkomplex Hinkelstein-Großgartach-Rössen. Die große stilistische Verwandtschaft zwischen der Großgartacher Kultur und der Hinkelstein-Gruppe wurde 1969 von Katharina Mauser-Goller und 1975 von Walter Meier-Arendt bestätigt. Beide Forscher wiesen zudem auf Überschneidungen mit der Linearbandkeramik hin, was auf eine zeitweise Parallelität dieser Kulturen hindeutet. In den 1970er Jahren erweiterten großflächige archäologische Untersuchungen im Rheinland, insbesondere zwischen Köln und Aachen, das Wissen über die Siedlungsstrukturen und die Wirtschaftsweise der Großgartacher Kultur erheblich (vgl. Lüning 1982, Dohrn 1983). Hierbei wurden große Siedlungen freigelegt, die neue Einblicke in das alltägliche Leben jener Epoche ermöglichten. Eine detailliertere zeitliche Differenzierung gelang schließlich 1980 durch Marion Lichardus-Itten. Ihre Forschungen an den Gräberfeldern von Lingolsheim und Erstein im Elsass trugen wesentlich dazu bei, die Entwicklung und Chronologie der Großgartacher Kultur präziser zu erfassen. Dieser wissenschaftliche Fortschritt zeigt, wie interdisziplinäre Ansätze und kontinuierliche archäologische Feldarbeit das Verständnis einer so bedeutenden neolithischen Kultur stetig vertiefen.
Chronologie der Großgartacher Kultur und ihr Platz im
Hinkelstein-Großgartach-Rössen-Komplex
Die Zeitreise ins Mittelneolithikum
Der Übergang von der Linearbandkeramik zur nachfolgenden Epoche markiert den Beginn eines neuen Abschnitts in der Jungsteinzeit. In der ersten Hälfte des 5. Jahrtausends v. Chr. entwickelte sich der mittelneolithische Kulturenkomplex, der durch eine Abfolge von drei bedeutenden Kulturgruppen geprägt wurde. Den Anfang machte die Hinkelstein-Gruppe, die etwa von 5000 bis 4900 v. Chr. bestand. Darauf folgte die Großgartacher Kultur, deren Blütezeit sich zwischen ca. 4900 und 4700 v. Chr. erstreckte. Den Abschluss bildete die Rössener Kultur, die sich bis etwa 4790/4550 v. Chr. hielt (vgl. Eisenhauer 2003). Diese zeitliche Gliederung verdeutlicht die dynamischen kulturellen Entwicklungen während des Mittelneolithikums, die durch Innovationen in der Keramikherstellung, Siedlungsstruktur und Wirtschaftsweise geprägt waren.
Die Verbreitung der Großgartacher Kultur
Von Südwestdeutschland bis ins Elsass:
Eine weitreichende Kultur des Mittelneolithikums
Die Großgartacher Kultur zeichnete sich durch eine beeindruckende geographische Ausdehnung aus. Ihr Hauptverbreitungsgebiet lag in Südwestdeutschland, doch reichte sie weit darüber hinaus. Auch das Ruhrgebiet und das Rheinland zählten zu den Regionen, in denen ihre Spuren deutlich nachweisbar sind. Darüber hinaus erstreckte sich ihr Einflussgebiet nach Unter- und Mittelfranken sowie in das Nördlinger Ries. Im Westen fand man Überreste der Kultur im Elsass, während sie im Osten bis in den Raum von Erfurt vordrang. Diese weiträumige Verbreitung unterstreicht die Bedeutung der Großgartacher Kultur als eine zentrale Komponente des mittelneolithischen Kulturenkomplexes und zeigt, wie eng die unterschiedlichen Regionen in dieser Zeit kulturell verbunden waren.
Eleganz in Ton - Die Keramik der Großgartacher Kultur
Von Südwestdeutschland bis ins Elsass:
Eine weitreichende Kultur des Mittelneolithikums
Die Keramik der Großgartacher Kultur zeichnet sich durch charakteristische Ziertechniken und Formen aus, die sie unverwechselbar machen. Besonders typisch ist der sogenannte Doppelstich, bei dem mithilfe von Beinwerkzeugen, wie Schweinezähnen, Muster in den feuchten Ton eingedrückt wurden. Diese Stichreihen formen dekorative Bänder oder Girlanden, die den freigelassenen Raum auf den Gefäßen kunstvoll ausfüllen. Eine weitere Besonderheit liegt in der Verwendung von Kontrastmaterialien: Die in die Stiche eingebrachten weißen Ton- und Kalkmassen heben sich deutlich von der durch kohlehaltige Zusätze dunkel gefärbten Gefäßoberfläche ab. Dieses Spiel mit Kontrasten verlieh den Gefäßen ein markantes und ästhetisches Erscheinungsbild. Die Gefäßformen selbst waren ebenso charakteristisch. Alle Tongefäße besaßen gewölbte Kugelböden, die einen Bauchknick und einen leicht nach außen gezogenen oberen Rand aufwiesen. Um die Standfestigkeit zu gewährleisten, nutzte man unterstützende Standringe. Besonders weitbauchige Gefäße hatten oft Griffzapfen oder Schnurösen an der Bauchkante, die sowohl funktional als auch dekorativ waren. Eine einzigartige Gestaltung der Großgartacher Keramik ist die tannenzweigartige Bogengirlande, die oft mit kleinen Schleifenmotiven unterhalb der Bauchkante verziert wurde. Zu den Leitformen der Kultur gehört außerdem der konische Becher, der auf einem hohen Standfuß thronte. Diese kunstvolle Verarbeitung und dekorative Vielfalt machen die Keramik der Großgartacher Kultur zu einem wichtigen Erkennungsmerkmal dieser Epoche.
Schiffsförmige Großhäuser der Großgartacher Kultur und geplante Siedlungen
Architektur und Organisation im Mittelneolithikum
Die Großgartacher Kultur setzte die Tradition der bandkeramischen Langhäuser fort, entwickelte diese jedoch weiter. Ihre charakteristischen Großhäuser erreichten beeindruckende Längen von bis zu 65 Metern. Im Gegensatz zu den längsrechteckigen Grundrissen der Bandkeramik wiesen die Häuser der Großgartacher Kultur leicht gebogene Längswände und unterschiedlich lange Schmalseiten auf, wodurch sie einen schiffsförmigen Grundriss erhielten. Die Dächer dieser Bauwerke bestanden vermutlich aus leichten Materialien wie Stroh und hatten eine Neigung von 40 bis 50 Grad. Interessanterweise variierte die Dachform je nach Breite des Grundrisses: Während der Eingang an der nordwestlichen Seite vermutlich von einem Walmdach geschützt wurde, schloss das Dach an der südöstlichen Seite in einem Giebel ab.
Im Inneren der Häuser fand sich eine vierschiffige Unterteilung, die durch Querjoche mit jeweils drei Pfosten strukturiert war. Die Wände bestanden aus mit Lehm bestrichenen Flechtwerken, die zwischen tragenden Wandpfosten angebracht waren. Diese Konstruktionen hinterließen gut erkennbare Spuren im Boden, die Archäologen heute analysieren können. Siedlungen der Großgartacher Kultur waren offenbar kommunal organisiert und strukturiert. Ein eindrucksvolles Beispiel findet sich in Bad Friedrichshall-Kochendorf im Landkreis Heilbronn. Dort waren die schiffsförmigen Häuser in ihrer Ausrichtung deutlich an einem doppelten Palisadenring orientiert, der die gesamte Siedlung umgab. Dieses deutet auf eine bewusste Planung und möglicherweise auf Schutzmaßnahmen hin, die für diese Zeit bemerkenswert waren. Die Kombination aus innovativen Bauformen und geplanter Siedlungsstruktur zeigt die fortschrittlichen sozialen und baulichen Fähigkeiten der Menschen der Großgartacher Kultur.
Die Gräberfelder der Großgartacher Kultur
Archäologische Einblicke in Bestattungsriten, kulturelle Übergänge
und soziale Strukturen im Mittelneolithikum
Die Gräberfelder der Großgartacher Kultur bieten faszinierende Einblicke in die Bestattungsriten und die kulturellen Übergänge dieser Epoche. Besonders im Elsass wurden Verstorbene in einer gestreckten Rückenlage beigesetzt, wobei der Kopf nach Nordwesten und die Füße nach Südosten ausgerichtet waren (Lichardus-Itten 1980). Ein bedeutendes Gräberfeld wurde 1988/89 von Helmut Spatz im hessischen Trebur (Kreis Groß-Gerau) untersucht. Hier fanden sich insgesamt 127 Bestattungen, die sowohl der Hinkelstein-Gruppe als auch der Großgartacher Kultur zugeordnet werden konnten. Überraschend waren zwei Brandgräber der Hinkelstein-Gruppe, da bis dahin nur Körperbestattungen bekannt waren. Diese Entdeckung verdeutlicht, dass die Bestattungsriten zwischen den beiden Kulturen vielfältiger waren als zuvor angenommen.
In den Gräbern zeigte sich eine Reihengräberstruktur, bei der die Toten in gestreckter Rückenlage und mit einer einheitlichen Ausrichtung (SO-NW) bestattet wurden. Während bei der Hinkelstein-Gruppe alle Verstorbenen mit dem Kopf nach Südosten lagen, zeigte die Großgartacher Kultur eine geteilte Praxis: Etwa die Hälfte der Toten war wie zuvor ausgerichtet, während die andere Hälfte mit dem Kopf nach Nordwesten lag. Diese Unterschiede weisen auf regionale und gruppenspezifische Variationen hin. Eine bemerkenswerte Erkenntnis betrifft den kulturellen Übergang zwischen den beiden Gruppen. Der Stilwechsel erfolgte nicht abrupt um 4700 v. Chr., sondern während einer Überlappungsphase ab etwa 4600 v. Chr. Innerhalb der gleichen Gruppe wurden Neuerungen unterschiedlich schnell übernommen, was zeigt, dass stilistische Ähnlichkeiten nicht zwangsläufig auf eine zeitliche Gleichzeitigkeit hinweisen. Die Grabbeigaben spiegeln sowohl den Alltag als auch den symbolischen Glauben wider. Neben Gefäßen und Werkzeugen fanden Archäologen reich verzierten Schmuck, darunter Kalksteinperlen, durchbohrte Eberzahnlamellen, Eckzähne von Raubtieren, Muscheln und fossile Schnecken. In einigen Gräbern wurde sogar Fleisch als Wegzehrung für das Jenseits beigelegt. Im Vergleich dazu waren die Gräber der Großgartacher Kultur oft weniger aufwendig ausgestattet und weniger tief angelegt als die der Hinkelstein-Gruppe.
Literatur zur Großgartacher Kultur
Wissenschaftliche Veröffentlichungen und Schlüsselwerke zur Erforschung
des mittelneolithischen Kulturenkomplexes
- Eric Biermann mit Beiträgen von Jürgen Richter und Bernhard Weninger: Großgartach und Oberlauterbach. Interregionale Beziehungen im süddeutschen Mittelneolithikum (= Archäologische Berichte. Band 8). Habelt, Bonn 1997, ISBN 3-7749-2837-1 (Digitalisat).
- Alexander Binsteiner: Die Lagerstätten und der Abbau bayerischer Jurahornsteine sowie deren Distribution im Neolithikum Mittel- und Osteuropas. In: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz. Band 52, 2005 (2006), S. 43–155 (Online).
- Ernst Probst: Deutschland in der Steinzeit. Jäger, Fischer und Bauern zwischen Nordseeküste und Alpenraum. Bertelsmann, München 1991, ISBN 3-570-02669-8, S. 285–286.
- Ludwig Lidl: Das steinzeitliche Dorf Großgartach. In: Heimatverein Leingarten (Hrsg.): Heimatbuch Leingarten. Leingarten 1982, S. 21–28.
- Marion Lichardus-Itten: Die Gräberfelder der Großgartacher Gruppe im Elsaß. (= Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde. Band 25). Habelt, Bonn 1980, ISBN 3-7749-1423-0.
- Katharina Mauser-Goller: Die Rössener Kultur in ihrem südwestlichen Verbreitungsgebiet. In: Hermann Schwabedissen (Hrsg.): Die Anfänge des Neolithikums vom Orient bis Nordeuropa. Band 5a: Jens Lüning: Westliches Mitteleuropa. (= Fundamenta. Reihe: A. Band 3). Böhlau, Köln 1972, ISBN 3-412-96272-4, S. 231–269.
- Alfred Schliz: Das steinzeitliche Dorf von Großgartach. Seine Kultur und die spätere vorgeschichtliche Besiedlung der Gegend. Enke, Stuttgart 1901.
Mittelneolithikum
STECKBRIEF
01
Name
Großgartacher Kultur
02
Zeitraum
Ca. 4900–4700 v. Chr. (Mittelneolithikum)
03
Kulturenkomplex
Hinkelstein-Großgartach-Rössen
04
Forschungsgeschichte
- Begriff geprägt von Alfred Schliz (1900) nach Grabungen in Großgartach (heute Leingarten, Landkreis Heilbronn).
- Stilistische Ähnlichkeit mit der Hinkelstein-Gruppe festgestellt (Mauser-Goller, Meier-Arendt).
- Neue Erkenntnisse durch Grabungen in den 1970er Jahren, z. B. zwischen Köln und Aachen (Lüning, Dohrn).
05
Verbreitung
- Südwestdeutschland (u. a. Heilbronner Raum).
- Rheinland und Ruhrgebiet.
- Unter- und Mittelfranken.
- Nördlinger Ries.
- Elsass bis nach Erfurt.
06
Keramik
- Charakteristische Ziertechnik: Doppelstich in Bändern und Girlanden.
- Verwendung von weißer Ton-Kalk-Masse als Kontrast zur dunklen, kohlehaltigen Oberfläche.
- Typische Gefäße: Kugelböden mit Standringen, tannenzweigartige Girlanden, konische Becher mit Standfuß.
07
Siedlungen
- Schiffsförmige Großhäuser mit bis zu 65 m Länge.
- Vierschiffiger Innenraum, Wände aus Lehm bestrichenen Flechtwerken.
- Orientierung an doppelten Palisadenringen (z. B. Bad Friedrichshall-Kochendorf).
08
Bestattungen
- Gräberfelder mit Reihengräberstruktur.
- Körperbestattungen in gestreckter Rückenlage (Kopf NW, Füße SE).
- Beigaben: Schmuck aus Kalksteinperlen, Eberzähnen, Muscheln und Fleisch als Wegzehrung.
- Weniger aufwendige Gräber als in der Hinkelstein-Kultur.
09
Besonderheiten
- Überlappung und langsamer Übergang zur Rössener Kultur (ca. ab 4600 v. Chr.).
- Stilistische Unterschiede und regionale Variationen innerhalb der Kultur.
Mittelneolithikum KULTUREN
STICHBANDKERAMIK
ca. 4.900 – 4.500 v.Chr
RÖSSNER-KULTUR
ca. 4.790 – 4.550 v.Chr
THEIß-KULTUR
ca. 4.200 – 3.200 v.Chr