Die prähistorische Evolution... ca. 8800 und 7000 v. Chr.

Nevalı Çori

Nevalı Çori, eine bedeutende frühneolithische Siedlung, stammt aus der Zeit des präkeramischen Neolithikums B (PPNB). Die Überreste dieser faszinierenden Siedlung liegen im Herzen der Provinz Şanlıurfa in der heutigen Türkei, eingebettet im hügeligen Vorland des Taurusgebirges. Nevalı Çori erstreckte sich beidseitig entlang des Kantara-Bachs, einem kleinen, aber wichtigen Nebenfluss des Euphrats, der das Leben der frühen Bewohner dieser Region maßgeblich prägte. Dieser historische Ort, der Archäologen tiefere Einblicke in die Entwicklung sesshafter Gemeinschaften ermöglicht, fiel im Jahr 1992 den Fluten des Atatürk-Stausees zum Opfer, nachdem die Region überflutet wurde. Trotz dieser Zerstörung bleibt Nevalı Çori ein Schlüsselort für das Verständnis der neolithischen Revolution, insbesondere hinsichtlich der Entstehung von Siedlungen und den ersten architektonischen Bauwerken.

Fragment mit Ritzungen im Archäologischen Museum Şanlıurfa

Grabung von Nevalı Çori

Entdeckungen einer verlorenen Welt

Die Ausgrabungen in Nevalı Çori wurden als Teil einer Rettungsgrabung ins Leben gerufen, nachdem der Bau des mächtigen Atatürk-Staudamms drohte, die Siedlung unter den Fluten zu begraben. Von 1983 bis 1991 führten Forscher in insgesamt sieben Grabungskampagnen systematische Untersuchungen durch, um die einzigartigen archäologischen Schätze der Region zu sichern. Ein Team der Universität Heidelberg unter der Leitung des renommierten Prähistorikers Harald Hauptmann, in enger Zusammenarbeit mit dem Archäologischen Museum Şanlıurfa, widmete sich der Rettung und Dokumentation der Funde. Besonders beeindruckend sind die Fragmente mit filigranen Ritzungen, die heute im Archäologischen Museum Şanlıurfa ausgestellt sind. Sie geben Einblicke in das künstlerische und rituelle Leben der neolithischen Gemeinschaften und sind Zeugen der frühen menschlichen Kreativität.

Atatürk-Staudamm

Datierung von Nevalı Çori

Ein Blick in die Frühgeschichte

Die relativchronologische Einordnung von Nevalı Çori basiert auf der Analyse der Silexindustrie, insbesondere der charakteristischen Byblosspitzen, die schmal und ohne Flächenretusche gestaltet sind. Diese Funde weisen darauf hin, dass die Siedlung in die Phase 3 nach Olivier Aurenche einzuordnen ist, was dem frühen bis mittleren präkeramischen Neolithikum B (PPNB) entspricht und etwa zwischen 8800 und 7000 v. Chr. datiert wird. Interessanterweise zeigen verschiedene Artefaktformen, dass die Besiedlung über diese Phase hinaus bis in Phase 4 andauerte, die dem späten PPNB (Präkeramische Neolithikum B) zuzuordnen ist. Eine weitere Differenzierung innerhalb von Phase 3 lässt sich durch die architektonischen Merkmale der Siedlung feststellen. So weisen die Häuser der Schichten I bis IV, die durch Unterbodenkanäle charakterisiert sind, große Ähnlichkeit mit der sogenannten „Kanalplanphase“ in Çayönü auf. 

Nevalı Çori

Dagegen zeigt das einzige Gebäude der Schicht V, Haus 1, mit seinem abweichenden Grundriss bereits Anlehnungen an die „Zellplanschicht“ in Çayönü, was auf eine bauliche Entwicklung innerhalb der Siedlung hindeutet. Für die absolute Datierung von Nevalı Çori stehen vier Radiokarbondaten (14C) zur Verfügung. Drei dieser Daten stammen aus Schicht II und legen nahe, dass diese Schicht in die zweite Hälfte des 9. Jahrtausends v. Chr. datiert werden kann, etwa in den Zeitraum von 8600 bis 8000 v. Chr. Diese Ergebnisse stimmen mit den frühen Datierungen aus Çayönü Mureybet IVA überein und untermauern die Einordnung der Siedlung in Phase 3 nach Aurenche. Ein viertes Datum weist sogar auf eine Besiedlung im 10. Jahrtausend v. Chr. hin, was eine noch frühere Phase des PPNB in Nevalı Çori belegen könnte.

Die Architektur von Nevalı Çori

Architektur und Lebensraum der Neolithiker

Die Siedlung von Nevalı Çori zeigt eine bemerkenswerte Baugeschichte, die sich über fünf Bauschichten erstreckt. Besonders auffällig sind die länglichen, rechteckigen Häuser mit zwei bis drei parallelen, zellenartigen Räumen, die vermutlich als Lagerräume dienten. Diese sogenannten Magazine schließen sich an rechteckige Vorbauten an, die durch Mauervorsprünge gegliedert sind und als Wohnräume interpretiert werden können. Die Architektur dieser Häuser ist robust und innovativ: Die Fundamente bestehen aus mehreren Lagen großer Bruchsteine, zwischen denen kleinere Steine zur Stabilisierung eingefügt wurden. Auffällig ist zudem die ausgeklügelte Technik der steingedeckten Unterbodenkanäle, die quer zur Längsachse der Gebäude verlaufen. Diese Kanäle, die einen Abstand von etwa 1 bis 1,5 Metern zueinander haben, waren zur Belüftung offen und dienten vermutlich der Entwässerung, Kühlung oder Luftzirkulation in den Gebäuden. Insgesamt wurden 23 solcher Häuser freigelegt, deren Bauweise starke Parallelen zu den Kanalbauten der „channeled subphase“ in Çayönü aufweist. Es wird angenommen, dass diese Häuser mit flachen Dächern versehen waren, was angesichts der klimatischen Bedingungen sinnvoll erscheint.

Nevalı Çori Ausgrabung
Nevalı Çori: Rechts isometrische Rekonstruktion des „Kultgebäudes“ (Badisches Landesmuseum 2007.32).

Im nordwestlichen Teil der Siedlung entdeckten Archäologen eine in den Hang eingelassene Kultanlage, die aus drei übereinanderliegenden Bauphasen besteht. Die jüngste dieser Kultbauten gehört zur Bauschicht III, die mittlere zu Schicht II, und die älteste wird der Schicht I zugeordnet. In den beiden jüngeren Bauphasen wurden Zementfußböden in Terrazzotechnik freigelegt, ein fortschrittliches Baumaterial, das in der ältesten Bauphase noch nicht verwendet wurde. Vergleichbare Techniken und Strukturen finden sich auch in Çayönü und auf dem nahegelegenen Göbekli Tepe. Besonders beeindruckend ist die Anordnung der monolithischen Pfeiler in der Kultanlage. Zwei zentrale Pfeiler dominieren den Raum, während die übrigen Pfeiler im Kreis um sie herum in eine umlaufende Sitzbank eingebaut sind. Diese Anordnung erinnert stark an die Monumentalanlagen von Göbekli Tepe, was auf eine gemeinsame religiöse oder kulturelle Tradition hinweisen könnte. In den Ostwänden der jüngeren und mittleren Bauphasen wurden zudem Fragmente großer Kalksteinskulpturen gefunden, die möglicherweise in rituellen Kontexten verwendet wurden. Auch auf der Westseite des Tals fanden sich bei Grabungsschnitten Überreste von rechteckigen Gebäuden, die in zwei bis drei Bauschichten angelegt waren. Diese Entdeckungen erweitern das Bild einer komplexen, mehrphasigen Siedlungsstruktur, die sowohl Wohn- als auch Kultbauten von großer architektonischer und religiöser Bedeutung umfasste.

Skulpturen von Nevalı Çori

Kunst und Symbolik im Neolithikum

In Nevalı Çori wurden zahlreiche Statuen und Kleinplastiken aus dem örtlichen Kalkstein gefertigt, die bei ihrer Entdeckung als die ersten Großplastiken des Neolithikums galten und eine neue Dimension der Kunstgeschichte eröffneten. Besonders faszinierend sind die Funde, die in der Ostwand des Sondergebäudes aus der jüngsten Bauphase vermauert waren. Darunter befand sich ein überlebensgroßer Kopf, dessen auffälligstes Merkmal eine Schlange ist, die sich um den Hinterkopf windet, während das Gesicht des Kopfes abgeschlagen wurde. Neben dieser eindrucksvollen Figur wurde auch eine Vogelstatue entdeckt, deren Schnabel in einem menschlichen Gesicht endet, was eine symbolische oder mythologische Bedeutung nahelegt. Aus der mittleren Bauphase des Gebäudes stammen weitere bemerkenswerte Funde, darunter eine Skulptur, die einem Pelikan ähnelt, sowie der Körper eines weiteren Vogels. Besonders rätselhaft ist die fragmentarische Darstellung eines Wesens, das einen menschlichen Kopf mit einem vogelartigen Körper kombiniert. Diese Mischwesen könnten Hinweise auf religiöse oder mythologische Vorstellungen der damaligen Gemeinschaft geben. Ein herausragender Fund war eine totempfahlartige Skulptur, die in einem der Wohnhäuser entdeckt wurde. Diese bestand aus verschiedenen Fragmenten, die zusammengesetzt eine beeindruckende Figur aus Vogel- und Vogel-Mensch-Hybridgestalten bildeten, was auf eine enge Verbindung zwischen Mensch und Tier in der Vorstellungswelt dieser Kultur hinweisen könnte. Einige der T-förmigen Pfeiler, die typisch für Nevalı Çori und analog zu den berühmten Funden in Göbekli Tepe sind, tragen ebenfalls kunstvolle Reliefs. Diese Pfeiler werden oft als stilisierte menschliche Gestalten interpretiert, möglicherweise Götter, Ahnen oder andere übernatürliche Wesen. Das T-Stück stellt den Kopf dar, wobei der kürzere Teil als Hinterkopf fungiert. Auf den Breitseiten der Pfeiler sind abgewinkelte Arme in Hochrelief dargestellt, die auf der Schmalseite in Hände übergehen. Diese Hände halten zwei gerade, parallel herabhängende Bänder, die von den Archäologen als eine Art stolaähnliches Kleidungsstück gedeutet werden, was auf die Bedeutung von Kleidung und Symbolik in den religiösen oder zeremoniellen Praktiken dieser Zeit hinweist.

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Nevalı Çori pelikanähnliche Vogelskulptur, der Körper eines weiteren Vogels und fragmentarisch ein merkwürdiges Wesen mit menschlichem Kopf und vogelartigem Körper

Funde von Nevalı Çori

Schätze der Neolithischen Kultur

Nevalı Çori Figuren

In Nevalı Çori wurden mehr als 700 Keramikfiguren entdeckt, ein beeindruckender Fund, der tiefere Einblicke in die künstlerischen und symbolischen Praktiken der neolithischen Gemeinschaft ermöglicht. Besonders auffällig ist die Dominanz menschlicher Darstellungen, während lediglich 30 zoomorphe Figuren – also Darstellungen von Tieren – identifiziert wurden. Diese Verteilung legt nahe, dass der Fokus der künstlerischen Ausdrucksformen in dieser frühen Kultur stark auf dem Menschen lag. Ein bemerkenswertes Detail dieser Funde ist die nahezu gleichmäßige Verteilung von männlichen und weiblichen Figuren, was möglicherweise auf eine Gleichwertigkeit der Geschlechter in rituellen oder alltäglichen Kontexten hindeutet. Die Figuren wurden jedoch nach einem festen künstlerischen Schema gefertigt, das nur selten durchbrochen wurde. Dies deutet auf eine starke Normierung und Konventionalität in der Darstellung hin, die entweder kultische, soziale oder symbolische Funktionen erfüllte. Die Vereinheitlichung der Figuren spricht für eine tief verwurzelte Tradition, bei der die Darstellung von Mensch und Tier einem strengen Regelwerk unterlag. Dieses Schema könnte wichtige Hinweise auf die symbolische Bedeutung der Geschlechter und die Rolle von Tieren im neolithischen Weltbild liefern. Die Keramikfiguren von Nevalı Çori erweitern damit das Verständnis der künstlerischen und religiösen Ausdrucksformen der Menschen, die hier vor über 10.000 Jahren lebten.

Bestattungen in Nevalı Çori

Rituale und Glaubensvorstellungen

In Nevalı Çori wurden auch Bestattungen innerhalb der Siedlung selbst entdeckt, was auf einzigartige Begräbnisrituale hinweist. Einige der Häuser enthielten Schädeldeponierungen sowie unvollständige Skelette, was vermuten lässt, dass der Umgang mit den Toten in dieser Gemeinschaft eine besondere rituelle Bedeutung hatte. Diese Praxis, menschliche Überreste in den Wohnräumen zu platzieren, könnte auf Ahnenverehrung oder eine enge Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten hindeuten. Die gezielte Ablage von Schädeln in den Gebäuden, oft ohne die dazugehörigen Körper, deutet darauf hin, dass der Schädel in der neolithischen Glaubenswelt eine besondere Rolle spielte. Schädelkulte, bei denen die Köpfe der Verstorbenen möglicherweise über längere Zeiträume aufbewahrt oder verehrt wurden, sind auch aus anderen prähistorischen Stätten wie Jericho oder Çatalhöyük bekannt. In Nevalı Çori könnte diese Tradition ebenfalls vorhanden gewesen sein, was den Glauben an eine spirituelle Verbindung zwischen den Verstorbenen und den Lebenden unterstreicht. Die unvollständigen Skelette, die ebenfalls in den Häusern gefunden wurden, könnten auf sekundäre Bestattungen hindeuten, bei denen die Körper zunächst an anderer Stelle beigesetzt und später teilweise in die Siedlung zurückgebracht wurden. Diese ungewöhnlichen Bestattungspraktiken bieten spannende Einblicke in die religiösen Vorstellungen und sozialen Strukturen dieser frühneolithischen Gemeinschaft.

Nevalı Çori Schädel Deponierungen

Präkeramisches Neolithikum Ai

STECKBRIEF

01

Name

Nevalı Çori

02

Epoche

Präkeramisches Neolithikum B (PPNB), 
ca. 8800–7000 v. Chr.

03

Entdecker/Grabungsleitung

Harald Hauptmann, Universität Heidelberg, in Zusammenarbeit mit dem Archäologischen Museum Şanlıurfa

04

Ausgrabungen

1983–1991 (7 Kampagnen, Rettungsgrabung wegen des Atatürk-Staudamms)

05

Überflutet seit

1992 (Atatürk-Stausee)

06

Architektur

 Fünf Bauschichten

  • Längliche, rechteckige Häuser mit Unterbodenkanälen zur Belüftung/Kühlung/Entwässerung
  • Vergleichbare Bauweise mit den Kanalbauten von Çayönü
  • Flachdächer, Magazin- und Wohnbereiche

07

Kultstätte

Hangbau mit monolithischen Pfeilern (ähnlich Göbekli Tepe), Terrazzofußboden, Kalksteinskulpturen

08

Funde

  •  Über 700 Keramikfiguren (vorwiegend menschliche Darstellungen, ca. 30 zoomorphe Figuren)
  • Statuen und Kleinplastiken aus Kalkstein (u.a. Mischwesen, überlebensgroßer Kopf, Vogelfiguren)
  • Schädeldeponierungen und unvollständige Skelette in den Häusern

09

Besonderheiten

  •  Erste Großplastiken aus dem Neolithikum
  • Komplexe Bestattungsrituale (Schädelkult)
  • Verbindung zu anderen bedeutenden Stätten wie Göbekli Tepe und Çayönü

Präkeramisches Neolithikum A (PPNA)
Wichtige Fundorte

JERICHO
ca. 11.000 v.Chr 

MUREYBET 
ca. 10.200 – 8.000 v.Chr

ÇAYÖNÜ
ca. 10.000 – 7.000 v.Chr

NEVALI ÇORI
ca. 8.800 – 7.000  v.Chr

BOUQRAS
ca. 7.400 – 6.200 v.Chr

ʿAIN GHAZAL
ca. 7.300 – 5.000 v.Chr

ÇATALHÖYÜK
ca. 7.100 – 5.700 v.Chr

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